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Jakob Burgi

Déjà fous

In Ottawa, oberhalb des gleichnamigen Flusses, dessen Ufer an jener Stelle eher einer Felswand gleicht, liegt das kanadische Nationalmuseum. Als ich vor einigen Jahren Ottawa besuchte, war ich öfter in diesem Museum. Vor dem Gebäude war damals eine riesige Spinnenskulptur installiert, unter deren Beine man hindurch zum Haupteingang gelangte. An die genaue Architektur des Eingangs kann ich mich nicht mehr erinnern. Seine Formen sind verwaschen, der Stil vage. Er ist mehr die Mischung einer Vielzahl von Museumseingängen, die ich in meinem Leben betrat.

In Gedanken blicke durchs Fenster vor meinem Schreibtisch. Es ist keine sonderlich spezifische Erinnerung, dies. Ich kneife die Augen zusammen und suche in Gedanken nach einer Ahnung warum sie auftauchte. Suche nach einem Faden, ein Faden wie einer der Spinne in meinem Fenster. Heute morgen hat sie angefangen, das Fenster vor meinem Schreibtisch zuzuspinnen, da war es noch offen. Zuerst seilte sie sich vom oberen Fensterrahmen ab, weit rechts von der Mitte. Danach links von der Mitte. Diese Fäden, die später das Grundgerüst ihres symmetrischen Handwerks bildeten, vibrierten im Wind wie die Saite einer Geige. Fasziniert stupste ich einen davon an. Er klebte nicht, war aber überraschend stabil und gradezu dick. Fast meinte ich ihn klingen zu hören, und beugte mich in Richtung des Fensters. Der Spinne schien das nicht zu gefallen, flugs verschwand sie in einer Nische der Fensterbank. Ich zog erschrocken die Finger zurück und begab mich wieder an meine Arbeit.

Als ich das nächste Mal aufblickte, hatte sie bereits einige jener charakteristischen Kreise gesponnen, die mehr einem Vieleck mit spitzen Ecken entsprechen und in jeder schematischen Darstellung eines Spinnennetzes ihren Platz finden. Doch eine Ecke des Netzes wirkte noch instabil und war sicherlich nicht symmetrisch. Ich nahm einen kurzen Ast, den ich die Tage auf einem Spaziergang mitgenommen hatte, und klemmte ihn in den Fensterrahmen. In sicherem Abstand verfolgte ich jetzt ihren Tanz auf den Fäden. Jede Beinbewegung, selbst zu schnell, um sie verfolgen zu können, ein Stechen gradezu, wird nur von der scheinbaren Viskosität der Fäden aufgehalten. Von leichtem Zittern begleitet stakste sie behände auf ihrem Gerüst umher, bis ich nichts mehr außer Spinnennetz erkannte. Der Ast schien zu helfen, und sie wurde mit der Zeit immer selbstbewusster, da in ihrem Fenster.

Ich glaube sie ist von der Tatsache eingenommen, dass in meinem Zimmer immer einige Insekten herumfliegen, was der Tatsache geschuldet ist, dass ich jenes Fenster gern offen lasse. Ich mag den leichten Windzug, das Rascheln der Zettel und den Geruch der Holzöfen, der aus der winterlichen Welt in mein Zimmer zieht. Die ansonsten klare und bisweilen eisige Luft hilft mir beim Denken. Besonders blühe ich auf, wenn der Nebel draußen wieder einmal unsere Welt in ein Dorf verwandelt, und ich mich wieder einmal in Kanada wähne.

Ich weiß nicht, ob es das Museum ist, an das mich die Spinne erinnert hat. Wobei… Wenn man am Ticketschalter vorbei geht, führt der Weg zu den Ausstellungen eine lange, schmale Rampe entlang. Wie ein Hohlweg zieht sie sich, um sich endlich in einen lichten halbseitigen Glaskuppelbau zu öffnen. Dessen spinnennetzartige Struktur spannt sich leichtfüßig sich über die sich orientierenden oder in den Polstersesseln des Museumskaffees sich entspannenden Besucher. Wenn man im Winter früh genug ins Nationalmuseum geht, ist die Glaskuppel noch mit Eisblumen übersät, und man wird sich ihrer ganzen Fragilität bewusst. Ich habe mich immer gefragt, wann sie über uns einbrechen wird, krachend, wie das winterliche Eis auf dem Ottawa, dass jeden Frühling neu unter den Schlittschuhläufern und dem neuen Jahr zusammenbricht.

Bevor es das aber tut, wird es Risse bekommen haben. Sie werden sich von der Flussmitte ausbreiten, und mit dem Frühling endlich das Ufer erreichen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Eisschicht in der Flussmitte schon lange durch das unter ihr strömende Wasser ausgedünnt geworden sein, und der Fluss für den Eislauf gesperrt sein. Und sobald die Risse im Eis auftauchen ist klar, nur die Mutigen fahren noch darauf, und niemand überquert mehr den Fluss mit seiner Hilfe. Im Winter versuchte ich lang, die charakteristischen Muster des zersplitterndes Eises selbst zu erzeugen. Dieses Unterfangen war jedoch hoffnungslos, es war viel zu kalt in Ottawa, und das Eis war entsprechend dick. Es wäre erfolgsversprechender gewesen, die riesigen Eiszapfen an einer der alten Eisenfachwerkbrücken über den Ottawa abzuhacken, und zu hoffen, dass ihr Fall tief genug sei.

Doch sobald nur genügen Leute auf dem Flusseis Schlittschuh liefen, entstanden die Muster von ganz alleine. Ich konnte mich gut in den zahlreichen Sputen verlieren, die aus gekreuzten Wegen, Pirouetten oder Zusammenstößen der eifrigen Läufer entstanden. Sie zappelten hin und her, wie die Fliegen im Spinnennetz. In Kanada hat mich der Winter geprägt – und vor allem die Fäden, die er zog, und von denen ich noch heute immer wieder welche, an meinen Fingern klebend, finde, wenn ich mit ihnen durch die Luft streiche.

Nervig. Jetzt komme ich nicht mehr davon los, ohne herauszufinden, wo die Fänden eigentlich her kamen. Ich wische erneut durch die Luft vor mir, und spüre den Widerstand einer der tragenden Fänden des Netzes im Fenster. Die Spinne kommt aus ihrem Versteck im Fenstersims um zu schauen, was sie gefangen hat, da habe ich den Faden schon zerrissen. Er fällt mit einem Schnappen in sich zusammen, und mit ihm ein Teil des Netzes, das nun hier und dort nur noch aus zusammengerafften Seilen besteht. Ich nehme den Ast, den ich in den Fensterrahmen geklemmt hatte, und werfe ihn mitsamt einem Teil des Netzes auf die Straße vor dem Haus. Die Spinne zögert, bis ich auch einen zweiten der tragenden Fäden zerrissen habe, da ist sie plötzlich verschwunden. Das Netz ist jetzt fast komplett in sich zusammen gefallen. Ich schließe das Fenster, und ignoriere den Staub, der sich im Laufe der nächsten Tage auf den Fetzen des Netzes sammelt, bis Wind und Wetter es abgetragen haben. Die Spinne kam nicht wieder.




Am 9. Dezember haben wir im Universitas unsere vierte Lesung »Revue« gehalten. An diesem Abend haben Felix Kunz, Ege Görgün, Jakob Burgi und Patrizia Hinz aus unserer Redaktion neue Texte präsentieren. Auf unsere Ausschreibung hin haben außerdem unsere regelmäßige Gastautorin Klaudia Rzeźniczak und ein neuer Gastautor, Joshua Loska ihre Texte bei uns vorgelesen. Als musikalische Begleitung hat wie immer das Duo »blues no blues«, auch bekannt als Felix und Shadi, begeistert.

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