Der Bücherdieb
„Du sagst, du hast ein Buch geklaut?“
Plötzlich bin ich wieder wach, nachdem das Hintergrundprasseln des Feuers davor meine Gedanken in Sicherheit gewiegt hat, Zusammenhänge aufgelöst und eine Art träges Glück in mir ausgelöst hat. Genauso lässt das Schattenflackern an der Wand gegenüber den Blick verschwimmen, ein Abbild, das, sich von seiner physischen Grundlage lösend, in den Raum tritt, sich wie zäher Dunst darin ausbreitet, ihn jeden Moment neu der eigenen Laune nach ändernd. Schon als ich vorhin in die Wohnung von meinem Freund getreten bin, kam mir die Hitze unangenehm vor, als eine solche, die sich hinter der Stirn sammelt, und sich in meinem Kopf festsetzt. Nun sitze ich vom Polster umfasst in einem tiefen Sessel, zu versunken, um der Position des Beobachters zu entkommen, und schaue, immer noch leicht dösig, meinen alten Freund verdutzt an.
„Richtig. Und ich bin nicht stolz darauf. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber am
Schluss wollte ich doch mit dir darüber reden“, sagt er energisch.
„Das kann ich nachvollziehen“, antworte ich langsam. „Trotzdem! Warum tust du das? So etwas hätte ich nie von dir erwartet!“
Mit den Spalier stehenden Regalen um uns kommt mir die Vorstellung doch etwas merkwürdig vor. Welches ist das schwarze Schaf? Welches muss ich, sobald ich es in der Hand habe, anders betrachten, entsprechend seiner Geschichte? Noch ist die Anklagebank leer, zwischen uns auf dem Tisch, aber sie alle stehen und liegen bereit, blicken aus ihren Logen herab und erwarten das Tribunal herbei.
„Es ist lange her. Wenn ich mich konzentriere, zu sehen versuche, was damals passiert ist, warum es passiert ist, muss ich die Szene noch mal ganz durchspielen. Es ist, wie gesagt, lange her. Ich weiß gar nicht, was mich jetzt wieder dazu gebracht hat, daran zu denken.“ Er zögert einen längeren Moment, um dann, langsam nach Worten suchend, weiterzusprechen.
„Ich bin bei einem Bekannten im Wohnzimmer. Es ist hübsch eingerichtet, ich glaube er hätte gesagt: „Schöne Möbel, schöne Bücher, einen schönen Partner“. Der Tisch ist gedeckt, die Kerzen stehen bereit, er öffnet einen Wein. Wir beide haben uns nie viel gesehen, aber immer gut verstanden. Sein Partner hingegen ... Sagen wir, ich hätte die beiden damals einfach nicht besuchen sollen.“ Er schüttelt langsam den Kopf.
„Er öffnet also irgendeinen von ihren vielen Weinen während ich die Regale entlang laufe. Es riecht stark nach Papier und Buchbinderkleber, ich atme den Geruch tief ein und fühle mich fast wie zuhause. Die Namen sprechen Bände, ich bin neidisch auf diese Menge an Wissen, bin ich sogar heute noch. Es ist in dem Moment an dem ich die Regale entlangwandere, wirklich überwältigend. Wissen, das ihnen gehört. Wissen, das ich auch haben will. Bücher als Hort der Erkenntnis haben mich schon immer fasziniert, die Herausforderung, die sie versprechen und die man doch nie ganz besiegen kann. Eine ewige Jagd, bei der wir uns selbst viel mehr überwinden müssen als die Bücher, denke ich manchmal. Ich habe einen unglaublichen Respekt vor Leuten, die sich tagtäglich damit umgeben. Früher vor allem, die alten Bibliothekswächter. Die Bibliothek von Alexandria?! Wann immer ich mich an einen Ort träumen konnte... Aber Wissen war schon damals mehr Mittel zum Zweck als weltferne Träumerei für mich, wie eine Jagd, aber die anspruchsvollste, die ich je kannte. Jedes erlegte Stück Wissen eine tiefe Befriedigung, das Ausschlachten danach ein Festmahl.“
Seine ruhige Art zu erzählen passt sehr gut zu meiner Trägheit, aber zumindest bin ich jetzt wacher. Das Feuer auch. Damit das Flackern eine Grundlage zur Eroberung hat, hat sich die Hitze immer mehr ausgebreitet, den Raum in Beschlag genommen, sich gestaut. Damit aber hat sie auch mich schon gefangen genommen, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ärgerlich über die Unterbrechung, über das leichte Ersticken, fokussiere ich mich wieder auf das verschwommene Gesicht auf der anderen Seite des Tisches, das die Flammen reflektiert, die sich in dunklen, fast fiebrigen Augen spiegeln, und irgendwie versucht zu erklären, warum Bücher klauen eigentlich gar kein so großes Problem ist. Noch dazu offensichtlich die von einem Bekannten. Wie kam er nochmal von da zur Jagd? Ach ja, jedes erlegte Lendenstück Wissen ein Festmahl. Klaut man deswegen Bücher?
„Ein Buch ist in Leder gebunden, ein ganz bisschen Staub liegt auf dem Buchrücken, aber man sieht es kaum. Ich folge der Bücherreihe mit den Fingern, sammele dabei ein wenig Staub ein, lese langsam über die Titel. Bis mir einer besonders auffällt, und so wie du das sicher auch gemacht hättest, ziehe ich es langsam aus dem Regal und werfe einen Blick auf die Rückseite. Währenddessen wiege ich es in meiner Hand. Es gefällt mir, beides gefällt mir, Gewicht und das, was es an Inhalt verspricht.“ Es ist, als würde er den Moment noch einmal durchleben, die Spannung spüren. Kein Wunder also, dass er in einer Geschwindigkeit erzählt, die dem entspricht, was er damals erlebt hat. Unruhig, nicht gänzlich anwesend, gebannt. „Es zieht mich geradezu an. Ich koste den Moment aus, der mir die zu erlangende Erkenntnis verspricht, das Verlangen, das Buch aufzuschlagen, in den Text einzutauchen, die Herausforderung anzunehmen und wieder einmal etwas zu verstehen, mir zu eigen zu machen.“
Ich bin aufgestanden, der Raum ist nicht allzu groß, die Bücher nicht allzu fern. Sie starren noch immer auf mich herab, aber ich habe gemerkt, wenn ich zurückstarre kann ich ihren vorwurfsvollen Blick, der mich als Teilnehmer an der Erzählung trifft, zumindest ignorieren. Auf den Beinen zu sein, hilft, ich entkomme der stehenden Luft, schüttele meinen Kopf, um den Nebel darin loszuwerden, einen klaren Blick zu bekommen. Ich genieße es ein wenig, meine Beine zu strecken, während ich den Regalen näher komme. Ich frage mich, wo sich in dieser riesigen Anzahl Bücher das geklaute versteckt, sollte es überhaupt hier irgendwo sein. In der Angst, das schwarze Schaf mit dem Blick zu streifen, hefte ich meinen Blick auf einige wenige, lasse mich von ihrer Präsenz bannen, gespannt, ihren Wegen zu folgen, und den Wegen, denen ihre Ideen gefolgt sind. Ich ziehe ein Buch aus dem Regal, wiege es in meiner Hand, versuche zu erkennen, was es davon hält, all das zu hören. Wie schwer wiegt seine Erkenntnis?
„Ich habe also dieses Buch in der Hand, während der Freund von meinem Bekannten ein paar Zimmer weiter in der Küche das Essen vorbereitet und hinter mir Wein gluckernd aus einer Flasche gegossen wird. Ich schließe kurz die Augen bevor ich mich umdrehe, um meinen Bekannten nach dem Buch zu fragen. Aber er ist schon in der Küche, ich glaube, er wollte mich nicht stören. Ich kann mir das Buch sicherlich ausleihen, und dass viel Zeit vergeht, bis wir uns das nächste Mal sehen werden, wird schon kein Problem sein. Es ist wirklich ein Buch unter vielen, kaum zu bemerken, nicht mal dick. Fast gar nicht sieht man die Lücke, die es im Regal hinterlassen hat.“
Ich blicke mich um. Wo ist die Lücke zu meinem Buch? Sie ist weg, versteckt im Schattenwurf des Feuers und der Erzählung. Sie hat sich geschlossen, geschützt durch die Bücher um sie herum, die eine Brücke auch ohne dieses eine schlagen können. Sie entsteht aus den Wörtern von denen sie umgeben ist, ins Leben gerufen von einer Erzählung, die langsam, aber stetig, weitergeht. Wenn mein Buch also dort nicht fehlt, so habe ich Wissen vermehrt, nur indem ich es aus dem Regal gezogen habe, und seine neue Existenz explodiert in meiner Hand, wie das Paradoxon von Banach-Tarski. Gleichzeitig bemerke ich, dass das Aufstehen doch nur teilweise geholfen hat, denn wenn ich stehe, stehe ich doch nur noch mehr im Qualm. Angestrengt blinzele ich mit den Augen, die sich trocken anfühlen, genauso wie mein Mund. Etwas zu trinken wäre großartig, auch, um gegen den immer intensiver werdenden Rauchgeschmack anzukommen, der sich würzig aber pelzig auf meiner Zunge breit gemacht hat. Leicht angewidert blicke ich mich im Raum um, und bewege mich wieder zu meinem Sessel zurück, nichts anderes bleibt übrig, als dieses eine Ziel im Raum anzusteuern, zumal die Möglichkeit, das Buch zurück in seine Lücke zu stellen, jetzt, wo er gesehen hat, dass ich es aus dem Regal genommen habe, versperrt ist.
Währenddessen hat mein Freund schon langsam, wenn auch immer noch zögerlich, weitererzählt. Es scheint ihm Mühe zu bereiten, das alles wieder hervorzurufen, alle Gefühle, die es erzeugt, die er damals durchlebt hat, noch einmal zu durchleben und wegen mir in diesem Zimmer geradezu Realität werden zu lassen:
„Über einem Sessel neben der Zimmertür hängt meine Jacke. Ich schlendere zu dem Sessel, lasse mich langsam darin versinken, und betrachte die Taschen in meiner Jacke. Ich frage mich, welche am besten zu dem Buch passt, und wähle die Tasche innen links im Jackenfutter. Das Buch passt perfekt rein, wie dafür geschaffen: ich muss bloß aufpassen, dass es mit keiner Ecke hängen bleibt, ich will es schließlich nicht kaputtmachen.“ Eine Pause ertappt ihn, wie er nach Wörtern sucht, schleicht sich in die Geschichte. Ich schaue ihn an. Plötzlich ist die Erzählung schnell zu Ende. Er wirkt froh, es fast geschafft zu haben. Unsicher, ob er bis ganz zum Ende durchhält, schwankt seine Stimme leicht, seine Hände zittern.
„Es war ein merkwürdiges Gefühl, am Ende einer Jagd zu stehen, eine zufriedene, leicht erschöpfte Leere, ich war fast zu satt für das Essen. Ich habe wirklich nicht so viel herunter bekommen. Der Wein hat aber ganz gut gepasst, er war irgendwie intensiv, so eine Art Erinnerung an andere Abende nach aufgewühlten Tagen, du weißt schon, an denen man froh ist, die müden Beine zu strecken und die Stille zu genießen.“
Seine Geschichte vermischt sich mit dem Wein aus meinem Glas, der ähnliche Abende wie die von ihm erinnern lässt, mit weltschaffender Präzision fügt sie sich in die Szene vor meinen Augen ein, verändert das Buch in meiner Hand, macht meine Jacke zu einem Objekt der Ablehnung, so wie sie vom dem Haken an der Wand hängt, zur Abscheu, mich darin verstecken zu müssen, sobald ich hinaus in die Kälte gehe, als würde ich mich selbst stehlen, verschämt durch das Geheimnis, das mich zum Mittäter gemacht hat. Plötzlich fühlt es sich unangenehm an, das Buch, das ich aus dem Regal genommen habe, noch festzuhalten, ich suche einen Platz auf dem Tisch vor mir und lege es neben meinem Teller ab. Zum Glück haben wir schon vorhin gegessen, ich weiß nicht mehr, ob ich noch Messer und Gabel in das Stück Fleisch hätte schlagen können, mit dem Buch neben mir auf dem Tisch, es hätte sich angefühlt wie stattdessen das Buch zu verspeisen, die Gabel durch den Buchrücken zu spießen, um das sanfte Brechen der Seiten darunter zu spüren, ihr empörtes Rascheln zu vernehmen, danach vor dem ersten Bissen sich vorstellend, wie die erste Gabel wie zu trockener Blätterteig langsam im Mund zerfällt, noch leicht staubig, weil es zu lange niemand mehr gelesen hat. Ich bin sprachlos. Was antwortet man auf diese Intensität, auf eine solche Erzählung?
„Aber du kannst doch nicht einfach ein Buch einstecken?! Ich hätte niemals deinem Bekannten in die Augen sehen können, geschweige denn mit den beiden zu Abend zu essen.“ Mein Mund fühlt sich jetzt noch von der Idee der staubtragenden Seiten leicht pappig an, ähnlich zu dem Gefühl, mit seinen Bekannten essen zu müssen.
„Das hätte ich vorher auch nicht gedacht, denke ich. Aber weißt du, es hat sich sehr normal angefühlt. Es war das Bewusstsein, dass ich ein Geheimnis vor ihnen hatte, ein Kratzer in seiner perfekten Welt, es war die Choreographie der ganzen Handlung, ich konnte gar nicht anders, ich wäre aus der Rolle gefallen.“
Seine Art des Erzählens hat sich verändert, er schließt seine Hände dabei, als könnte er diese Rolle wieder überstreifen. Ich frage mich erstaunt, ob er das nicht schon getan hat.
„Ich hatte endlich eine Rolle gefunden, die wie angegossen passte, aber gerade deswegen war ich da, in dem Moment. Ich hatte das Gefühl, der Einzige zu sein, der sieht, was tatsächlich passiert. Es war fast schon faszinierend.“
Diese Faszination ist mittlerweile physisch zu spüren, das Leuchten in seinen Augen wie ein weiteres Feuer, böse, dazu das schattenhafte Züngeln der Flammenspitzen, tausendfach in den Buchrücken widergespiegelt. Jeder golden gedruckte Titel hat seinen Eigensinn, heizt das Tribunal an. Die Anklage vom Regal aus verlangt eine Antwort, die Rufe kommen aus jeder Richtung, sie isolieren mich in dem Sturm, den sie hervorrufen. Ich stelle meinen Kragen auf und ziehe die Schultern hoch, hoffnungslos hoffend versuche ich, die aufwallende Empathie von mir zu stoßen, versuche die Faszination von mir abperlen zu lassen, nicht damit in Kontakt zu kommen, nicht mit dem in Kontakt zu kommen, was mir wie eiskalter Regen ins Gesicht schlägt, auf der Haut prickelt, mich auf Oberfläche, auf Gesichtshaut, reduziert, heiß-kalt brennende Kalkringe beim Verdampfen hinterlässt. Erschöpft versuche ich, meine eigene Körperlichkeit wiederherzustellen, mich gegen den Sturm zu behaupten und konzentriere mich auf das Buch, auf dem meine Hand liegt.
„Aber denkst du also, dass Faszination nur zu erreichen ist, indem man Bücher klaut?“, erwidere ich, nehme das Buch vom Tisch und wedele etwas unbeholfen damit herum. Er schaut mich stirnrunzelnd an.
„Nein, keinesfalls! Du kennst dieses Gefühl ja auch, und du hast noch kein Buch geklaut. Aber das macht es noch lange nicht weniger intensiv, weniger beeindruckend. Es ist nicht so, als würde ich das jetzt noch einmal machen, oder irgendetwas Ähnliches. Ich rede ja nicht mit dir, um dich zu überzeugen, dass das, was ich gemacht habe, gut war, oder so. Aber ich musste mit irgendwem darüber reden, und reden heißt eben gerade für mich, dass der andere auch versucht zu verstehen, warum ich das getan habe. Sonst wäre es ja nutzlos, meinst du nicht? Ich suche schließlich deine Hilfe.“
„Natürlich, klar. Ich versuche ja auch zu verstehen. Aber ich verstehe nicht, wie du in diese Euphorie geraten kannst, warum du so fasziniert bist. Schau dich an. Ist das Reue? Reue, wenn du auf die Jagd gehst?“ Ich hohle kurz Luft um darüber nachzudenken, was ich sagen will.
„Und wenn dein Wild Wissen ist. Ich würde es nicht ausnehmen, auskosten, und zwar erst recht, weil es Wissen ist.“
„Nein, ja, du hast vollkommen Recht. Ich habe mich nicht an dich gewandt, weil ich dir erzählen wollte, wie toll es ist, zu klauen. Es war auch nicht toll, das hätte ich zu keinem Zeitpunkt gesagt. Es hat sich noch nicht mal wirklich toll angefühlt, wie das gerade vielleicht geklungen hat, falls das dein Eindruck war. Aber wenn du überlegst, dann stellst du fest, dass es auch keinen tatsächlichen Spaß macht, Wild zu erlegen. Der Spaß ist die Jagd davor, die Verfolgung, noch nicht mal der tatsächliche Erfolg, sondern der Moment ganz kurz davor. Es ist die Suche nach dem Wissen, und letztendlich habe ich ja noch nicht mal Wissen gestohlen. Das zum Beispiel hätte ich mir nie verzeihen können.“
Bücher bauen Brücken, heißt es, und damit bleibe die Gesamtheit des Wissens erhalten, egal wo sie ist, wie sie im Regal verstaut wird. Trotzdem, irgendetwas fehlt mir hier, irgendetwas habe ich übersehen. Ich betrachte wieder das Buch, das erneut auf dem Tisch liegt. Ist es das gestohlene? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, bei all diesen Büchern in den Regalen um uns, dass ich genau dieses eine, korrupte, Gedanken fesselnde, aus seiner Lücke gezogen habe? Ich werde es nicht herausfinden, fragen lohnt sich nicht. Vor allem will ich es eigentlich gar nicht herausfinden. Auch wenn mich die Möglichkeit fesselt, ist es doch keine relevante, die es jetzt zu klären gelte, denn die Geschichte hat ihre Realität ohne einen Zeugen, sie erzwingt ihre Moral in dem Tribunal, von dem ich mich umgeben sehe. Noch bin ich nicht bereit, ihrem Verlangen nach einem Richter nachzukommen, wundere mich über den Angeklagten auf dem Tisch, selbst Gejagter, selbst Schatten einer Lücke, die schon wieder geschlossen ist. Immer noch aus dem Nichts explodiert, habe ich noch nicht verstanden, was es mir sagen will. Was ist aus der Lücke geworden, die das eigentlich gestohlene Buch seines Bekannten hinterlassen hat? Ich bin mir fast sicher, dass sie nicht verdeckt wurde, egal, wie schmal das Buch war, es wird ein gähnende Lücke sein, wird durch die zu ihr gehörende Leere die Bücher daneben auseinandertreiben, alle Verbindungen zwischen ihnen trennen, in der grotesken Anmaßung, die bald das ganze Regal aufnimmt, verschluckt, den Kreis schließend zu dem Buch, das ich hier aus dem Regal gezogen habe, das sich aber eigentlich aus dem Nichts materialisiert hat. Was er dort genommen hat, taucht hier aus dem Nichts wieder auf.
„Ich finde trotzdem, dass du etwas übersiehst. Es ist ja nicht so, als ob das Buch niemandem gehörte, im Gegenteil, du hast es jemandem weggenommen. Gestohlen. Das ist nicht das gleiche, wie nach Erkenntnis zu suchen, finde ich. Erkenntnis ist nicht materiell, muss immer wieder neu gelebt werden und ist damit, wenn du so willst, an keinen Gegenstand gebunden. Das Buch nicht.“
„Nein, klar. Aber was ist dir an einem Buch wichtig? Ja nicht sein Papier, das ist Quatsch. Selbst wenn du sehr daran hängst, ist das ja nicht das Buch als Gegenstand, sondern seine Geschichte mit der du dich identifizierst. Nein, was dir wichtig ist, genau das, was auch mir an Büchern wichtig ist, ist eben ihr Inhalt. Und der hängt, zumindest heutzutage, schon lange nicht mehr von dem physischen Druck ab.“
„Aber verstehen wir uns nicht falsch, du hast das Buch ja geklaut, nicht?“
„Ja, schon“, antwortet er, wenn auch etwas zögerlich. „Das habe ich ja auch nie bestritten.“
„Und das Buch selbst, als Gegenstand, ist dann weg. Es fehlt also tatsächlich etwas im Regal deines Bekannten.“
„Würde es das nicht, wären wir nicht hier. Warum sollte ich denn auch sonst mit dir darüber reden?“
„Du könntest auch Ideen stehlen“, gebe ich zu bedenken.
„Der Punkt ist aber doch, dass es mir nie darum ging, etwas zu stehlen. Weder war das je mein Plan, noch habe ich darüber nachgedacht, als es passiert ist. Ich glaube noch nicht mal, dass ich es in dem Moment verstanden habe. Dazu war ich viel zu sehr davon in Anspruch genommen. Außerdem bin ich noch gar nicht beim Schluss der Geschichte. Mir war nämlich schnell klar, dass ich etwas falsch gemacht habe, und dass ich das Buch gerne zurückgeben würde. Willst du das Ende hören?“
So einfach also ist die Lösung?, frage ich mich. Es wirkt so unverhältnismäßig, als versuche er, eine unmögliche Aufgabe zu lösen, ein fast bemitleidenswerter Versuch, seine Tat auszugleichen, und doch erwachsen genug, es zu versuchen, aber nicht seinem Unternehmen gewachsen, nicht einmal ansatzweise, als hätte eine profane Handlung wie eine Entschuldigung auch nur die kleinste Chance, das Chaos, das er ausgelöst hat, zu ordnen, das Chaos, das sich in mir fortgesetzt hat.
Ich blicke unruhig um mich. Die Luft flimmert vor Hitze, brennt auf der Zunge und vermischt sich mit dem Geschmack des Weins, der langsam warm werdend meine Wahrnehmung umhüllt, die Würze wird rauchiger, fast bitter, weckt mich endgültig auf und lässt meine Hände zittern, ich will der Wahrnehmung weiter nachjagen, sie intensivieren, sie mir einverleiben. Das Verlangen überschwemmt mich, fängt mich fast ein, verzweifelt suche ich Schutz bei dem Buch, das vor mir auf dem Tisch liegt, durch den Rauch fast nicht mehr sichtbar, unfassbar. Ausdauernd gleichförmig, unnachgiebig schäumen die Wellen für mich den Raum auf, den der Qualm eintönig gefüllt hat, die Gischt wirft Staubblasen, sie wirbelt die Asche des Feuers auf und verteilt sie durch das Zimmer. Der Ruß legt sich auf meine Lippen, erstickt den letzten Geschmack vom Wein und färbt ihn schwarz, schwarz wie ich mir die leere Stelle im Regal seines Bekannten vorstelle.
Die Lippen aufeinandergepresst wanke ich durch die verwirbelte Asche und überlege, ob ich mein Buch zurückstellen soll, frage mich, ob ich den Weg durch das Zimmer überhaupt schaffe, angstübermannt zögerlich nehme ich es langsam vom Tisch, versuche, mich selbst zu überreden, wie einfach es eigentlich sein sollte, es zu tun. Nichts alltäglicher als das, ein Buch zurück ins Regal zu stellen. Eine Bewegung, die ich schon in tausendfacher Weise ausgeführt habe, geübt, seit ich wenige Jahre alt war, mit jedem Mal trainierter, über die Jahrzehnte ausgefeilt künstlerisch inszeniert, wenn auch nie so sehr wie ein Buch aus dem Regal herauszuziehen. Die Erinnerungen stellen sich mir in den Weg, perfektioniert wie sie sind, ausgefeilt bis hin zur in Sicherheit wiegenden Gedankenlosigkeit verbieten sie sich selbst ihre Ausführung, sind viel zu substanzlos und inhaltsleer, um hier noch weiter helfen zu können, viel zu beiläufig für das, was zur Wiedergutmachung notwendig wäre. Ich pralle an dem Vorwurf der Masse der Bücher zurück, die mittlerweile wieder vor mir aufgereiht sind. Im Qualm ist ihre Anklagebank spärlicher geworden, trotzdem fordern sie vehement die Gerechtigkeit ein, die meine Rolle von Anfang an versprochen hat. Geschlossen, wie ihre Linien sind, gänzlich unbeeindruckt davon, dass eines aus ihren Reihen als Versuchskaninchen für die Geschichte genommen wurde, von mir zweckentfremdet zum Nicht-gestohlen-werden, im Gegensatz zu einem anderen.
So wird der Kreis immer noch durch das Buch geschlossen, das ich aus dem Regal gezogen hatte, und es verankert mich hier, statt mich wie alle anderen der Überwältigung auszuliefern, es lässt mich hoffen, nicht in den Wellen unterzugehen, die mir schon bis zum Hals stehen, und gesteht mir eine Realität zu, die mir wegen meiner Nutzlosigkeit kaum noch zugestanden wurde. Trotzdem oder gerade deswegen, pralle ich mit meinem Vorhaben ab, werde vehement abgewiesen und muss meinen Rückweg durch Ascheansturm und Rußregen antreten. Ich komme nicht weit, bleibe nachdenklich stehen. Der Versuch, mein Buch wieder zurückzugeben ist gescheitert, wie musste erst seine klägliche Entschuldigung dagegen aussehen? Maßlos an sich der Versuch, die Lücke zu füllen, die er davor gerissen hatte, zu stopfen mit Lächerlichkeit und Verantwortungslosigkeit, vor dem Regal stehend sanft-vorsichtig mit den Händen die Bände auseinanderzudrücken, denen er Wochen vorher den Nachbarn geraubt hat, entschuldigend mit den Fingern die Lücke zu weiten, um sein Diebesgut loszuwerden, leise die Heimlichkeit verbergend, nur um festzustellen, dass die Spalte viel zu groß geworden ist, das Buch geradezu zwergenhaft erscheinen lässt, lächerlich klein, höhnisch Wiedergutmachung fordernd.
Verlassen und voller Anklage zieht es so unbewusst Aufmerksamkeit auf sich, als Eindringling gebrandmarkt, als Zentrum des Ungleichgewichts von Regularität und Ordnung, es zieht alle Blicke auf sich, fängt sie in einem Strudel aus Verwirrung ein. Das Bild zwingt mich in Gedanken doch noch einmal näher an das Regal zu treten, nach der Geschichte dieser Anomalie zu fragen, mich fragend zu wundern, was mir diese merkwürdige Erscheinung sagen will. Ich berühre das fein gemaserte, leicht staubige Holz, auf dem die Bücher stehen, schiebe sie ein wenig auseinander, um zu verstehen, was hier passiert ist. Die Bücher geben fast freiwillig nach, stellen sich geradezu in den Hintergrund. Erschrocken halte ich inne. Das war nicht meine Absicht, ich nehme die nächsten Bände und stelle sie wieder dahin zurück, wo sie vorher standen, nur ein bisschen zur Seite, danach ein weiteres, gehe am Regal entlang, um eines nach dem anderen wieder wie vorher zu positionieren, zu ordnen, Buchrücken neben Buchrücken, verzweifelt auf die gleiche Höhe stellend, ordentlich den Abstand ausgleichend. Umso weniger es klappen will, umso mehr muss ich zwei Schritte nach hinten machen, immer schneller neu Unordnung und Ungleichgewicht einsammeln, die immer mehr werden, mit jedem Mal, das ich versuche, sie aus dem Regal zu entfernen, häuft sie sich in meinen Händen an, überdeckt bald das ganze Regal mit Chaos, ein einziges Unordnungsgewitter, das sich wie ein Schleier über meine Vorstellung legt, sie verdunkelt, verschluckt. Ich greife in die Luft, um dem Bild zu entkommen, spüre Luftzug und Widerstand, Flockenartiges. Das Feuer spuckt jetzt Asche und Rauch. Selbst nach Rauch riechend, mache ich mich auf den Rückweg zu meinem Sessel, wühle mich durch das Unwetter, versuche, das Buch irgendwie davor zu beschützen. Ohne Jacke weiß ich nicht wohin damit, ich wickle es in den Saum von meinem Pullover, aber auch das hilft nicht viel, es erinnert mich trotzdem daran, dass ich es ja gar nicht verstecken will. Schnell gehe ich wieder zu dem Tisch, lasse mich erschöpft in den Sessel fallen. Vorsichtig lege ich das Buch neben meinen Wein. Direkt neben dem Feuer regnet es Asche, mit meinem Schweiß vermischt, klebt sie feuchtwarm an meinen Händen, lässt mich ihr Gewicht spüren, schlammig schwer. Trotzdem lege ich eine Hand auf das Buch, blicke auf schwarze Fingerabdrücke auf dem Titelbild. Sie erinnern mich an den Weg, auf dem ich eben nach Vergebung gesucht habe, zurückgewiesen von der Wut des Büchervolks. Endlich traue ich mich, meinem Freund in die Augen zu gucken.
Ich frage: „Also hast du es ihm inzwischen wiedergegeben?“
„Ich habe lange gebraucht bis ich mich überwunden habe, aber wir haben uns noch mal gesehen, und da habe ich einen kurzen Moment genutzt, den ich für mich hatte, um das Buch wieder zurückzustellen. Ich habe sogar die Lücke wiedergefunden, in der es damals stand.“
Irgendetwas bekomme ich immer noch nicht ganz zusammen. Die Reibungslosigkeit irritiert mich, so einfach soll es gewesen sein? Aber auch das scheint wieder nur zu verwischen, was ich eigentlich suche, im Brandungswind der Flammen, im Chaosstrudel, noch mehr zu verschleiern, zu bedecken, als dass es mir hilft, eine weitere Schicht Asche auf meinen Gedanken. Ich suche etwas, an dem ich mich festhalten kann, etwas das bleibt, während alles andere von der Trägheit oder von der Diskussion weggeblasen wird, was nicht von der Leere verschluckt wird, die mich übermächtig, ohrenbetäubend überwältigend, zurückwirft, überschwemmt. Ich suche eine Art Standpunkt, etwas, irgendetwas Absolutes, Haltbares. Panisch wühle ich in den Überbleibseln der Unterhaltung, an die ich mich erinnern kann, werde zwergenhaft, die ganze Unterhaltung schrumpft auf eine absolute, unhaltbare Bedeutungslosigkeit zusammen, es bleibt lediglich ein kleiner Schatten, der in die Realität ragt, eine Lücke, die ins Regal gerissen wurde, sie breitet sich aus, bedeckt alles mit bleiener Fassungslosigkeit, entfernt sich rasend schnell, während ich, selbst davon verschlungen, nur zusehen kann, wie alles, die Geschichte, meine Gedanken, meine Wahrnehmung, überschrien wird von der Fassungslosigkeit, angeklagt und zerrissen wird vom Tribunal um mich herum, ein Tribunal, das selbst in unsagbare Ferne rückt, unnahbar, fast irreal, schlage um mich in der Unbedeutsamkeitsbrandung, bis mir auffällt, angeschrien vom Tribunal, das geschafft hat, durchzuhalten, dass es so etwas gibt. Einen Standpunkt. Die Ruhe im Sturm, einen Fluchtmittelpunkt, etwas, das wir unangetastet gelassen haben, weil wir uns nicht trauten, ihm ins Auge zu sehen, hinter die Sturmwand zu treten und uns zuzugestehen, dass wir schon lange damit geliebäugelt haben. Das Einzige, was wir nicht zusammen dekonstruieren konnten, was hartnäckig geblieben ist, war die Monstrosität der Tat, angeprangert von Anfang an. Es ist die Möglichkeit, die er akzeptiert anzunehmen, die Versuchung der Wahl, die er hat, und der absoluten Kontrolle, dieses Moments, in dem er handelt ohne Andere anzuerkennen, der Möglichkeit, der er entscheidet nachzugeben.
Egal, was er getan hat, egal, was er hätte anders machen können, was er hätte sein können. Ich flüchte in die nächtliche Kälte, ein Gejagter, ohne Jacke, denn ich kann nichts anderes tun, um dieser Einsicht zu entkommen, sehe ein, dass es nichts anderes gibt als die Flucht, denn ich kann kaum fassen, was das alles eigentlich genau heißt.
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