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Felix Kunz

Fünfzeiler zu den Metamorphosen



argos


menschen, tiere, götter,

meiden meine gestalt.

bei sonn- und sternewetter

wird mein wachen trott und trötter —

einsam werde ich alt.



argos ist ungeheuer, das hera mit der bewachung der nymphe io beauftragt. der vozug an argos: er hat hundert augen, von denen zurzeit jeweils nur ein paar schläft. er kann so in alle richtungen schauen, ohne je müde zu werden. (ovid, metamorphosen: I 623—629)





pan


wo eben noch der bogen lag

aus horn, ertönt nun süßer klang.

das mädchen, das ich vor mir sah:

ich seufze, seufze in ihr haar –

mein gram ist ihr gesang.



syrinx


abtrünniger, alter baumgeist

pan, von fichtenlaub bedeckt:

sehnst dich, wie's in deinem traum heißt,

wenn du nymphenkleidersaum schweifst:

pan, ich bleibe unbefleckt.



der hirtengott pan verliebt sich in die nymphe syrinx. er will sie vergewaltigen. sie flieht. in dem moment, da er sie erreicht, verwandelt die nymphe sich in schilfrohr, das pan statt ihrer in der hand hält. er seufzt – der atemhauch entlockt dem schilf liebliche töne. als instrument behält der hirtengott seine geliebte: »So kann ich mit dir mich stets unterhalten!« wir sprechen heute noch von der »panflöte«. (ovid: metamorphosen, I 689–712, übersetzung nach hermann breitenbach)






phaeton


deine gaben können mir nicht reichen,

deine vatersorgen mich nicht rühren:

zum beweis, dass du und ich uns gleichen,

gilt mir nur dies untrügliche zeichen:

helios' sohn allein kann seinen wagen führen.



warum nimmt phaeton keine gabe des vaters an? warum reicht ihm dessen besorgnis nicht als pfand für die göttliche abstammung? es ist nicht jugendlicher leichtsinn und abenteuerlust, die phaeton dazu bewegen, um jeden preis des vaters wagen fahren zu wollen. es ist der beweis, der dadurch erbracht wäre: denn wer anders wäre in der lage, den mächtigen sonnenwagen des helios zu führen, als dessen sohn? (ovid: metamorphosen, II 35—91)





kyknos


ziellos endet deine reise,

bitter weine ich dir nach,

sing' auf immer, singe leise

meine alte klageweise,

seit dein tod das herz mir brach.



kyknos war der geliebte phaetons. nach dessen tod im inferno des weltenbrands verabscheut kyknos das feuer. er flieht in dessen gegenpol: die flüsse, seen und meere. damit er dort leben kann, ändert apoll seine gestalt in die eines schwanes. (ovid: metamorphosen, II 367—380)





die heliaden


vater ist komplett verrückt,

und ich, ich krieg' nen rappel.

kaum ist der sohnemann zurück,

reißt zeus den naseweiß in stück' –

ich glaub', ich werd' zur pappel.



nach phaetons tod trauern die töchter des helios um ihren bruder. in der trauer erstarren sie zu pappeln. der baum bezeugt bis heute seine abkunft von der sonne: der bernstein, der aus dem geronnen harz gewonnen wird, strahlt in sonnengleichem gold. (ovid: metamorphosen, II 340—366)





kallisto


mattes filzgestrüpp,

pranken, fänge – friere,

fürchte jägertritt:

fürchterliches glück –

fürcht' als tier die tiere.



die waldnymphe kallisto wird von zeus vergewaltigt, daraufhin von diana verstoßen und von hera in einen bären verwandelt. blöd. (ovid: metamorphosen: II 409—495)





der rabe


was sollen mir die wahren worte:

wahrheit wird mit hass bezahlt!

trug wahrheit an der weisheit pforte,

die weisheit hat am selben orte

schwarz mein federweiß gemalt.



die elster enthüllt athene ein geheimnis, dessen offenlegung zum schaden aller beteiligten ist. athene ist göttin der vernunft – aber eben nicht der wahrheit. zum »dank« für die petzerei färbt sie das weiße gefieder der elster schwarz: sie wird zum raben. (ovid: metamorphosen, II 549—565)





triton


scheiße! da, die schöne frau,

die gerade noch am strand spaziert,

wird weder papagei noch pfau,

nein: eine krähe, schwarz und grau –

heut' ist's der meergott, der verliert…



triton erblickt die tochter der coronis am strand und will sie vergewaltigen. um sie zu schützen, verwandelt athene sie in eine Krähe. (ovid: metamorphosen, II 569—588)





apoll an coronis


weinen kann ich nicht:

göttern gibt es keine tränen.

hass dem bogen, hasse mich,

hass das blinde todgesicht,

mir das kind zu nehmen.



apoll ist in coronis verliebt. als er erfährt, dass diese ihn betrügt, erschießt er sie mit dem bogen. was er nicht wusste: die frau war von ihm schwanger. mit ihr hat er das eigene kind getötet. (ovid: metamorphosen, II 589–630)





ocyrhoë


verfickte scheiße! nenn mich hagen,

harald oder gerd!

die beine nur konnt' ich ertragen,

jetzt wächst der pelz mir bis zum kragen:

die gute hälfte wird zum pferd!



ocyrhoë ist die tochter des zentauren chiron und wie der vater ein mischwesen aus pferd und mensch: auf dem unterkörper des pferdes sitzt an stelle des kopfes der menschliche oberkörper. ocyrhoë kann die zukunft schauen. als sie dem sohn des gottes apoll ein düsteres schicksal prophezeit, verwandelt dieser auch den oberkörper in pferdegestalt: ihre stimme erstirbt in wiehern und sie kann die prophezeiung nicht zu ende bringen. (ovid: metamorphosen, II 635–675)





zum stil


der fünfzeiler (eigentlich »fünfverser«, aber die bezeichnung als »-zeiler« hat sich durchgesetzt) ist eine oft unterschätzte strophenform. aus gründen, die im ureigensten menschsein begründet sein mögen (oder aus gewohnheit – es läuft aufs selbe hinaus), erwartet die leser:in vier verse. der zusätzliche vers bricht mit der erwartung und entwickelt eine spannung, die erst im schlussvers aufgelöst wird. das reimschema kann frei variieren. ich habe mich hier für ein eher klassisches (abaab) entschieden. weil das ohr hier den obligatorischen, paargereimten vierzeiler erwartet, den kinderreime, volkslieder und musik jeder couleur uns eingeprägt haben wie kaum eine andere metrische form, ist der bruch, den der eingeschobene, der vierte vers erzeugt, umso markanter, die auflösung im schlussvers umso erhellender.

so leichtfüßig die form daherkommt: sie bietet einige fallstricke, die es beim schreiben zu vermeiden gilt. mit enjambements etwa sollte im fünfzeiler sparsam umgegangen werden. sie neigen dazu, die spannung zu erodieren, die die reimstruktur aufbaut. insbesondere enjambements über die letzten drei verse brechen mit der dem fünfzeiler eigentümlichen wirkung. selbes gilt für vielfalt im metrum. davon ist sparsam gebrauch zu machen. sinnvoll ist, die durch reim gepaarten verse jeweils einheitlich zu bauen. eine gut angebrachte variation zwischen den paaren hingegen kann klappern im rhythmus vermeiden.

wie in allen stilfragen gilt: »richtig–falsch« ist nicht die kategorie für ein urteil: erlaubt ist, was gefällt. der gekonnte bruch mit stilvorgaben mag einem text sein eigenes und schönes geben. so bleibt für den fünfzeiler eine gewissheit: die aufmerksamkeit konzentriert sich auf den schlussvers. ist dieser nicht pointiert, nicht präzise, wirkt das stück schnöde und kunstlos. so sehr hier das besondere der form zum tragen kommt, so schwer wiegt jeder fehler, der an anderer stelle vielleicht verzeihbar wäre.

ich habe den fünfzeiler gewählt, um figuren, die in den metamorphosen nur am rande vorkommen, in dieser sentenzartigen strophenform mit einem spruch jeweils zu wort kommen zu lassen. die kleinen texte schreibe ich meistens, um mich auf andere gedanken zu bringen, wenn ich bei einem größeren gedicht nicht weiterkomme. insofern sind sie für mich eine art geistiger spaziergang. das schreiben war für mich vor allem unerhaltsam. ich hoffe, auch das lesen unterhält.

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