Gaia
Donnerhüter,
Hör mein Klagen:
Helios' Rosse
Haben bald ihr Joch zerschlagen.
Sieh den Sohn in
Vaters Sonnenwagen
Durch vereiste, lang verwaiste
Himmelbahnen jagen.
Ringsum brennend
Sinkt die Welt in tausend Plagen –
Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?
Sternenpfade,
Unwegsame Routen.
Zu erkalten zieh'n Gestalten
In verbot'ne Fluten,
Dort die Schlange, lange
Müd, entbrennt in Zornesgluten,
Und die Götter in den Bergen
Und die Erdenmenschen bluten.
Mich an Leiden müdzuweiden
Muss ich, muss verzagen –
Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?
Parnass' Gipfel,
Weltenhäupter brennen.
Helicon, Rhodope
Kann kein Horizont mehr trennen.
Lakmos Flüsse: Glutengüsse!
Xanthos, Melas, die Pyrennen
Sieden, dass die Nymphen
Heimat sie nicht länger nennen.
Die Verbannten und Gebrannten
Und die Heimatlosen fragen:
Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?
Atlas zittert
Unter Himmelszelten
Und im Beben bersten, heben
Sich die eben' Erdenwelten.
Sieh! Wie Wüstenbodenrisse
Tiefes Schattenreich erhellten:
Nicht soll Schatten mehr den Toten,
Nicht mehr Licht dem Leben gelten.
Fliehen will ich, flieh' in
Meereshöhlenkälten,
Trag' die Schwere noch der Meere,
Will sonst jeder Last entsagen –
Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?
All nicht länger – Chaos
Hat die Welt geboren,
Da die Toten in den Schloten
Hades' nicht mehr schmoren,
Da die Schlechten wie Gerechten
Göttern Rache schworen –
Herr! Mit Händen musst du's enden
Donner! Und die Horen
Singen wieder ihre Lieder
Deren Weise sie verloren –
Herr, du musst das Kind erschlagen! –
Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?
zum mythos
die erzählung um phaeton und den weltenbrand ist die zweitlängste in den metamorphosen. die menschenfrau clymene hat mit helios, dem sonnengott, phaeton gezeugt. von ihrem sohn nach dessen herkunft befragt, gibt sie ihm wahrheitsgemäß auskunft. phaeton will einen beweis für seine göttliche abstammung und zieht gen osten, wo die sonne aufgeht, um seinen vermeintlichen vater zu befragen.
an dessen reich geschmücktem palast angekommen, macht helios kein geheimnis aus der vaterschaft: den sohn habe er nie verleugnet. zum beweis wolle er phaeton eine gabe überreichen, die dieser frei wählen darf. phaeton wünscht sich, einmal den sonnenwagen des vaters zu fahren. helios ist entsetzt: »›Unbedachtsam‹, so sprach er, ›ist meine/ Rede durch deine geworden.‹« er versucht, den sohn zu überzeugen, von dem wunsch abzulassen: zeus selbst sei nicht stark genug, den wagen zu führen. wie könne phaeton sich anmaßen, größer als der größte aller götter sein zu wollen? die gabe zum beweis der vaterschaft sei in der besorgnis des vaters um den sohn zur genüge gegeben. doch phaeton gibt nicht nach – und der gott kann sein versprechen nicht zurücknehmen.
es folgt die wohl größte tragödie in den metamorphosen: der weltenbrand. phaeton verliert die kontrolle über den wagen, die pferde brechen aus, die sonne kommt der erde zu nahe – und die welt geht in flammen auf. sie war vor kurzem erst aus dem chaos entstanden: damit sie im feuer nicht wieder zum chaos sich auflöst, greift gaia, die erdgöttin, ein. sie ermahnt zeus, das größte unglück abzuwenden. zeus handelt: er schleudert einen blitz nach phaeton und tötet den jüngling. seine irrfahrt ist beendet – erde, unterwelt und himmel können fortbestehen.
(ovid: metamorphosen, I 750–II 332. übersetzung nach hermann breitenbach)
zur form
auf diese namenlose strophenform bin ich in einem band über orientalische lyrik gestoßen. sie tritt in einem gedicht von r. meïr auf, der wahrscheinlich im 11. jahrhundert gelebt hat, über den ansonsten aber wenig bekannt ist. das original ist in hebräisch verfasst. darin klagt das lyrische ich bildgewaltig den genozid am jüdischen volk seinem gott. jede strophe schildert die leiden des volkes und schließt mit der frage: »Kannst du, Herr, kannst du's ertragen?«, den »Herrn« gleichsam anrufend wie anzweifelnd.
der metrische und stilistische aufbau des gedichts ist einzigartig und ausdrucksstark. es ist streng trochäisch organisiert, was ihm einen harten, tragenden klang gibt, der sich dem schweren stoff perfekt fügt. die hebungszahl variiert, jedoch ist eine tendenz zu erkennen, dass die verse fortlaufend länger werden. in der fünften, der letzten strophe stabilisiert sich die hebungszahl in einen wechsel aus vier- und dreihebern mit ausnahme der beiden schlussverse. diese sind immer vierhebig.
die schlussverse sind immer paargereimt auf den sich wiederholenden schlussvers. ansonsten ist das gedicht fortlaufend kreuzgereimt, wobei nur jeder zweite vers reimt; die anderen sind waisen. allein in der ersten strophe reimen alle gereimten verse auf den schlussvers. das reimschema lautet demnach: axaxaxaxaa//bxbxbxbxaa//cxcx…aa//usw.
ein klangprägendes stilmittel ist der binnenreim: vereinzelt sind die vierhebigen waisen nach der zweiten hebung zäsiert; die vershälften reimen aufeinander (»Lass der Armen dich erbarmen«). dieses stilmittel tritt in jeder strophe mindestens einmal auf. ähnlich wie bei der hebungszahl liegt auch hierin ein steigerungsmoment: in der letzten strophe ist mit ausnahme der ersten jede waise binnengereimt.
das gedicht hat mich beim ersten lesen direkt begeistert. die form ist einzigartig und in höchstem maß kunstvoll. ich wollte mich daran probieren und habe dafür einen angemessenen stoff gesucht. in phaetons sonnenfahrt und dem weltenbrand habe ich ihn gefunden. anstelle des anonymen ichs, das an gott klagt, wendet gaia, die erde, sich an zeus, um das größte übel, die rücküberführung der weltenordnung ins chaos, abzuwenden. den schlussvers habe ich belassen, zum einen als wertschätzenden verweis auf die herkunft der form, zum anderen, weil er über die länge in »kannst du, Herr, kannst du's…« in verbund mit der wiederholung eine starke klangliche wirkung entfaltet. auch ansonsten bin ich dem original treu geblieben und habe wenig variiert: die geplante unregelmäßigkeit in der hebungszahl, das präzise angebrachte steigerungsmoment, verstärkt durch die innere gliederung im binnenreimen, war so perfekt gelungen, dass ich, wenn möglich, nicht damit experimentieren wollte. es war meine absicht, dem reichhaltigen, großen thema, dem weltenbrand andere farben zu geben als jene, die die palette von ovids hexameter zulassen.
das original ist zu finden in: Lyrik des Ostens, hg. von wilhelm gundert, annemarie schimmel & walther schubring in wiesbaden 2004, s. 24ff. übersetzung nach seligmann heller.
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