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  • Karim Gamil

Der Nostalgiker

Der Nostalgiker erinnert. Der Nostalgiker erinnert und erinnert sich. Er erinnert mich. Und zwar immer wieder an die Wahrheit, die uns nur in der Vergangenheit begegnet. Er erinnert mich an die Kathedrale von Alexandria. Er erinnert mich an die Kathedrale von Marseille und an Prag.

Er erinnert mich an Salamanca und somit an Heidelberg. Er erinnert mich, den Melancholiker, daran, dass ich zwar unglücklich bin, es aber Zeiten gab, in denen wir glücklich waren. Der Nostalgiker erinnert mich, den Melancholiker, an die Zeiten, in denen wir gemeinsam glücklich waren. Und zwar immer wieder.

Ich habe den Verdacht, oder besser gesagt die Sorge, dass ich dem Nostalgiker eine gewisse Unruhe bereite. Manchmal erkennne ich in seiner Stimme einen unruhigen Optimismus. Als würde er Angst haben, dass ich ihm seine Fantasie wegnehme. Im Gegenteil bereitet mir der Nostalgiker eine große Neugier. Mich wundert seine Angst immerhin. Ich habe den Nostalgiker sehr lieb. Wir ähneln uns in vielen Hinsichten, wobei man hier mit Gewissheit sagen kann, dass wir uns im Kern unterscheiden. Mich verletzt die Angst des Nostalgikers, weil er nicht erkennt, dass er mir so viel bedeutet, dass ich ihn so, wie er ist, liebe und ihm seine Nostalgie nie wegnehmen wollen würde. Dann wäre er nicht mehr der Nostalgiker und ich nicht mehr sein Freund, der Melancholiker.

Ich empfinde dabei eine gewisse Trauer, getrennt von ihm leben zu müssen und ihn aber doch so gut zu kennen. Sogar besser als er sich selbst. Der Nostalgiker unterscheidet sich von mir dem Melancholiker darin, dass er sich seiner Verzweiflung nicht bewusst ist. Ich dagegen schon. In Kürze: Der Nostalgiker denkt, er sei glücklich, in Wahrheit leidet er. Und darum verzweifelt er. Dagegen denke ich, der Melancholiker, dass ich leide. Mir ist meine Verzweiflung unmittelbar gegeben und darum verzweifle ich nicht!

Ich, der Melancholiker, begegne dem Nostalgiker mit großer Neugier, weil ich ihn beneide, obwohl er mich beneiden soll. Ich, der Melancholiker, spüre eine große Lust, zu leiden. Ich bin der falschen Überzeugung, zu leiden, während ich in Wahrheit Lust empfinde. Das bedeutet, dass mir meine Melancholie eine unmittelbare Trauer bereitet, die mich glücklich macht, ohne mir meines Glücks bewusst zu sein. In Wahrheit ist nur derjenige glücklich, ob er es denkt oder nicht, der sich seiner Verzweiflung bewusst ist. Somit denke ich, ich sei traurig und bin dadurch glücklich. Durch diesen Gedanken verzweifle ich. Aber in der Erkenntnis meiner Verzweiflung werde ich wieder glücklich.

Er dagegen denkt, dass er glücklich sei, und dadurch leidet er. Ihm ist seine Lust unmittelbar gegeben, jedoch ist seine Wahrheit Verzweiflung. Ich beneide den Nostalgiker, weil er denkt, er sei glücklich, während ich weiß, dass er unglücklich ist und ich in Wahrheit glücklich bin.

Der Nostalgiker agiert in diversen Kreisen. Manchmal in politischen, manchmal in künstlerischen. Am Sonntag wünscht er sich meistens, in die Kirche zu gehen, entscheidet sich aber letztendlich dagegen mit der Überzeugung, in einer bereits säkularisierten Gesellschaft zu leben, der ihm jeden Zugang zur ursprünglich religiösen Erfahrung verneint wird. Die Kirche, wie sie einmal war, wie sie in Wahrheit ist, ist ihm nicht mehr gegeben. Er hat aber die Kirche, wie sie einmal war, wie sie in Wahrheit ist, noch nie erfahren. Woher also die scharfe Überzeugung über die Wahrheit der Kirche? Woher die Überzeugung, dass die Kirche, die ihm gegeben ist, die Unwahre sei, und dass sie nur das entzauberte Überbleibsel einer wahren Religion sei? Der Nostalgiker möchte die Welt verändern. Er möchte sie so verändern und somit sie wiederherstellen. War sie ihm je gegeben?

Indem er sich an etwas erinnert, erfährt er eine ihm noch nicht gegebene Welt. Er denkt, er würde sich an etwas erinnern. Er denkt, der Gegenstand seiner Erinnerung war ihm immer gegeben. Und zwar seit immer. Der Nostalgiker ist wie ich, der Melancholiker, ein Visionär. Aber er unterscheidet sich von mir dadurch, dass er denkt, in seiner Erinnerung eine Lust zu spüren. In Wahrheit spürt er eine Trauer. Die Trauer besteht Wiederinnerung. Denn das, woran er sich sehnt, war ihm noch nie gegeben. Er hat die falsche Überzeugung, ein gewisses Ereignis zu einem gewissen Zeitpunkt unmittelbar erfahren zu haben und denkt, er braucht nur die richtigen Umstände wiederherzustellen, um diese Erfahrung wiederherzustellen. Wieso ist es dem Nostalgiker unklar, dass die Erfahrung vergänglich ist? Wieso möchte der Nostalgiker nicht zugeben, dass das, wonach er sich sehnt, die Unmittelbarkeit, ihn nicht erfüllt und nicht erfüllen kann? Was möchte der Nostalgiker in Wahrheit und wieso wendet er sich von sich selbst ab? Woher diese Abneigung gegen den Moment? Ist es die Angst, die ihn bewegt, oder ist es nur Neugier?


– Der Visionär




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