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  • Patrizia Hinz

einsichtig

Es war wirklich ein ganz elendiger Abend. Aus den Wolken fiel ein Pissregen, denn wenn es einen Gott geben sollte, dann besteht mein ganzer Glaube darin, dass er, oder meinetwegen auch sie, nur noch vorbeischaut um auf unsere Köpfe zu pissen. An einem dieser Abende also ging ich mit meinen Freunden nach Hause. Wir hatten unverschämt viel getrunken und während Alpha und ich schon von Kopfschmerzen dafür bestraft wurden, johlte Cornelius einige Schritte vor uns noch vergnügt: „Rechts und links kenn ich nich´/ Augen hab ich/ Aber Einsicht nich´“

Cornelius war schon immer etwas merkwürdig gewesen. Ich nenne die beiden mit etwas Abscheu meine Freunde; ich habe einfach keine besseren. Cornelius hat früher versucht Philosophie zu studieren. Schon etwas spät in seinem Lebenslauf, aber das fiel kaum auf, da er sich offenbar nicht als Einziger für den wiedergeborenen Nietzsche hielt. Damals dachte ich wirklich kurz, dass er es jetzt geschafft hat. Er kaufte sich eine neue Hose, ein Jackett mit diesen dummen Ellenbogenaufnähern und ging gewissenhaft in seine Veranstaltungen. Irgendwann war es beinahe unmöglich mit ihm zu reden. Wenn man Cornelius, als Denker posierend, mehr aus Mitleid als Interesse nach seiner Meinung zu irgendetwas fragte dann begann er: „Nun ja, das ist keine einfache Sache. Schon Aristoteles hat ja gesagt…“ etc. pp. An den Rest kann ich mich auch gar nicht mehr erinnern. Seine Sätze waren damals auf jeden Fall sehr lang. So ging ein ganzes Semester vorbei, bis man die ganz unsägliche Forderung an ihn stellte, dass er eine Hausarbeit schreiben soll. Einen wissenschaftlichen Beitrag mit korrekten Fußnoten, der seine geistige Teilnahme belegt. Cornelius warf also alle seine Bücher in den Müll und wir haben nie wieder über sein Studium gesprochen. Nun führte uns dieser Cornelius durch die Straßen und faselte immer noch: „Rechts und links kenn ich nich´/ Zwei Augenlöcher hab ich/ Bloß die Einsicht nich´“

Ich denke Alpha hat Cornelius immer etwas darum beneidet, dass er sich wirklich nicht weniger um seine Zukunft scheren könnte. Alpha hingegen hat sich immer an eine klare Linie gehalten. Hat getan, was man eben so macht. Man bringt ihm lesen und schreiben bei, also ließ und schrieb er. Seine Mutter bringt ihm das Kochen bei, also wird er Koch. Er verliebt sich, also heiratet er auch. Eigentlich lief es ganz gut für diesen Macher, er könnte glücklich sein. Aber ihm wurde immer langweilig. Egal wie begeistert er anfing, irgendwann war ihm alles gleichgültig. Cornelius dagegen scheiterte immer ganz dramatisch. Und als Freigeist. „Und was machen wir jetzt?“, fragt Alpha.

Ja, nein, also was machen wir denn jetzt? Cornelius, momentan wohnungslos, hatte die letzten Nächte in meiner Wohnung geschlafen. So langsam ging er mir aber auf die Nerven, besonders wenn er die ganze Zeit singt. Cornelius war ja kaum in der Lage sich gegen eine Umquartierung zu wehren. Also musste ich bloß Alpha überreden, dass er ja viel mehr Platz hat, die beiden sich schon länger kennen und ich gerade viel zu viel zu tun hatte, als das ich mich um Cornelius kümmern könnte. Alpha war nicht allzu schwer zu überzeugen. Ich bot ihm an mich im Gegenzug um eine neue Wohnung für Cornelius zu kümmern und die Sache war gebongt.

Die Wahrheit war, dass ich mich vor Cornelius fürchte. Überhaupt war ich so von Angst getrieben, dass ich mich an gar nichts neues mehr gewöhnen kann, zu hohes Risiko. Es war ein ganz grundsätzliches Grauen davor, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht und ich gar keine andere Wahl habe, als diesen Wahnsinn mitzumachen. Dass das ziemlich albern ist weiß ich zwar, aber manchmal musste ich sogar beten um mich zu beruhigen und dabei sollte Cornelius mich besser nicht sehen. Im Fall der Fälle kündigt er mir dann die Freundschaft. Es gab einfach keinen einzigen Fixpunkt an den man sich irgendwie festklammern könnte. Nur einen kleinen Punkt, irgendwo. Irgend, Adv., wird im Zusammensetzungen vorangestellt, auch verwendet in nirgends, im 18. Jhd. Besonders häufig verwendet mit der örtlichen Bedeutung. „Rechts und links kenn ich nich´/ Denn ich hab zwar Einsicht/ Aber Augen nich´“

Ja genau, nirgendwo gab es etwas festes und man kann sich nicht irgendwo zusammenrollen und Stoßgebete an Mami schicken. „Rechts und links kenn ich nich´/ Denn ich hab zwar Einsicht/ Aber Augen nich“

Klar Cornelius, so wirklich einsichtig ist ja niemand. Außer Ödipus vielleicht der war noch heroisch genug seine Einsicht auch in die Tat umzusetzen.




Am 9. Dezember haben wir im Universitas unsere vierte Lesung »Revue« gehalten. An diesem Abend haben Felix Kunz, Ege Görgün, Jakob Burgi und Patrizia Hinz aus unserer Redaktion neue Texte präsentieren. Auf unsere Ausschreibung hin haben außerdem unsere regelmäßige Gastautorin Klaudia Rzeźniczak und ein neuer Gastautor, Joshua Loska ihre Texte bei uns vorgelesen. Als musikalische Begleitung hat wie immer das Duo »blues no blues«, auch bekannt als Felix und Shadi, begeistert.


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