Im Nachtzug
Heute Morgen stiegen wir in den Nachtzug ein. Verwirrend, umso mehr als ein Liegewagen nicht mit Sitzplätzen ausgestattet ist. Also legten wir uns hin. Dieser Widerspruch half mir für einen Moment über die Verzweiflung hinweg, dass wir nun tatsächlich weit wegziehen, und über die Sorgen der letzten Monate. Aber wie so oft in letzter Zeit hielt mein Schmunzeln darüber nicht lang an. Dafür waren die Gänge zu voll und zu schmal und die Betten zu eng. Und da wir uns kaum bewegen konnten, steckten wir mit unseren Gedanken fest.
Mir kam in den Kopf, dass wir vor der Reise einen letzten Einkauf geplant hatten. Ein letztes Mal die Dinge, die für uns Zuhause bedeuten, da zu kaufen, wo für uns zu Hause ist, klang verlockend. Der Einkaufszettel war uns deswegen geradezu heilig geworden, obwohl die Liste nicht lang war. Doch dann verlor sie einer von uns. Wir suchten lange danach, drehten alles in der fast leeren Wohnung zweimal um, und versuchten dann, den Zettel möglichst zu vergessen.
Später stand ich vor der Kleidertruhe und fragte mich, welche Jacke am unauffälligsten für die Reise sei. Mein Blick fiel auf eine alte, abgenutzte Lederjacke, die ich schon seit Längerem dort vergraben hatte. Letztendlich zog ich sie an. Ich war mir nicht sicher, ob gerade diese Jacke wirklich die beste Wahl war. Aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Es war jene Jacke, mit der ich vor fünf Jahren auf einer der verbotenen Demonstrationen war, bei der mir ein verrückter Militär sein Sturmgewehr vor die Brust gehalten hatte. Ich bilde mir bis heute ein, dass auf der Jacke noch die Spuren der dreckigen Waffe zu sehen sind.
Vor allem aber war es jene Demonstration, auf der wir beide uns kennenlernten. Sie verstand mich auf Anhieb, meinen Ärger, meine Wut, und all das, was ich damals von der allgemeinen Stimmung aufgesaugt aber noch nicht verstanden hatte. Aber ich hatte auch Angst, vor ihr, sie stand vor mir in der ersten Reihe und sah ziemlich wild aus. Das war alles vor der Szene mit der Waffe und meiner Jacke. Manchmal diskutieren wir, ob sie mich gerettet hat. Dann sagt sie, dass ich seitdem oft genug bewiesen habe, dass ich damals gar keine Hilfe brauchte. Ich wiederum denke, dass ich das ohne sie gar nicht hätte beweisen können.
Wir guckten noch ein letztes Mal aus dem Fenster und verabschiedeten uns vom Fluss. Von den Dingen, die zurückbleiben würden. Und natürlich von der Stadt. Von den wenigen Freuden, die sich nicht schon, wie wir in diesem Moment, in irgendeine Richtung aufgemacht hatten, hatten wir uns schon verabschiedet. Und von den Freunden, die sich schon aufgemacht hatten, sowieso.
Erneut fiel mir auf, wie eng das Abteil war, in dem wir uns befanden. Ich stieg die Leiter herunter und versuchte, auf einem Bein eine Pirouette um mich selbst zu drehen. Das funktionierte sogar, aber ansonsten lief ich mit jedem Schritt gegen die alte Lampe, die nichts als Schatten und sterbendes Licht in das Abteil warf. »Patroklos aber in des Königs Harnisch. Und es dachten/ noch andere viel«, oder so ähnlich, kam mir in den Sinn. Daraufhin zog ich meine Lederjacke wieder an, schloss den Reißverschluss bis zu Hals, und trat auf den Gang hinaus.
Irgendwann nach jener Demonstration haben wir versucht, es etwas stiller um uns werden zu lassen. Freunde und Überzeugung waren zwar geblieben, aber einige Dinge hatten sich geändert. Es ergab mehr Sinn für uns, unsere Ziele anderswo als auf der Straße in Angriff zu nehmen. Unser Leben machte das jedoch auch nicht einfacher, mit dem Resultat, dass wir jetzt hier standen. Lagen.
Ich bin so erschöpft davon, einen ganzen Tag liegend zu verbringen, dass ich jetzt nicht einschlafen kann. Vorhin aber, als ich in unser Abteil zurückkam, hatte immerhin sie ein bisschen Schlaf gefunden, in den Straßenklamotten, auf der Tagesdecke. Jetzt aber scheint sich unter mir etwas zu regen, und ich will hinuntergehen und nach ihr schauen, mich zu ihr auf die Bettkante setzen.
»Guck mal,« sagt sie, leicht verlegen nach unten blickend, »was ich grade gefunden habe.«
Sie zieht den Einkaufszettel von heute morgen aus der Hosentasche. Ich muss unwillkürlich an all die Sachen denken, die darauf stehen. Der Stift, den sie zum Aufschreiben der Liste nahm, findet sich in der gleichen Tasche. Sie setzt sich auf und drückt mir die Liste auf die Brust:
»Weißt du, was brauche ich schon all diese Dinge, wenn ich mit dir unterwegs bin?« Sie streicht den ersten Eintrag durch und guckt mir in die Augen. »Du bist schon lang das Salz der Erde für mich.« Ein weiterer Strich, »und auch das Sprudelwasser, oder zumindest der Sprudel darin. Du bist das Brot meines Lebens.« Sie guckt mich ernst an. »Sei meine Seidenstraße für mich, ob Muskat oder Mohn.« Jeden Strich spüre ich durch die Jacke. Ich erwische mich dabei, wie ich, als würde ich beten, nachzähle, was wir uns heute Morgen noch als letzte Erinnerungen an die Heimat aufgeschrieben haben. »Die Fische? Deine Lebendigkeit hat sie schon seit Jahren für mich ersetzt.« Strich. »Ohne dich hätte ich nie Wein getrunken, warum sollte ich es mit dir tun? Du bist mir doch all mein Wein der Welt.« Ein letzter Strich, der das Papier zerreißt und eine leichte Spur auf der Jacke hinterlässt. »Was brauche ich Geist mir dir? Sind wir doch die Saat und der Felsen, auf dem wir unser neues Leben gründen wollen.«
Angesichts all ihrer Ernsthaftigkeit fange ich erst jetzt an zu schmunzeln. »Im Angesicht der Verzweiflung haben es die verrückten Dinge schon immer verdient, ausprobiert zu werden.«, sage ich nachdenklich zu ihr. »Solange wir noch reden können …« Spuren werden ihre Sätze jedenfalls hinterlassen. Und schließlich kann auch ich einschlafen.
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