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Lola in der Wirklichkeit

Charlotte Döhrmann

Lola konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie sie in diese Situation geraten war. Sie starrte das kleine Rechteck auf dem Bildschirm an, in dem ihre Kollegin Claudia saß. Claudias Kaffeetasse war so groß, dass ihr Kopf in regelmäßigen Abständen komplett dahinter verschwand und man nur noch den kreisrunden Tassenboden sehen konnte, der dann scheinbar auf ihrem Hals saß.

Oben rechts davon schienen Marinas Augen zwischen zwei Punkten auf ihrem Bildschirm hin und her zu flackern, aber sie sprach unbeirrt weiter über Pipeline-Management. Ihr kleiner Mund schien im Verhältnis zum ganzen Bildschirm wirklich unheimlich klein zu sein, und der war der Urheber von so viel Geräusch; ein Rauschen wie Sommerferien auf der A2, dachte Lola, als sie auf Marinas Mund starrte und Claudia den letzten Schluck in einem besonders steilen Tassenwinkel trank. Marina schien erleichtert. Ihre Kamera war so weit oben am Bildschirm montiert, dass der Großteil ihrer Kachel aus Rauhfasertapete bestand. Daneben graublaue Fugen, dachte Lola, wie die alten halb verschimmelten Fliesen in ihrer Bremer Wohnung, graublaue Fugen trennten die kleinen Rechtecke, in denen man ihre Kolleginnen sah. Perfekte Fugen ohne braune Schlieren, die auch Joschuas Fliese neben Marina umgaben, der offenbar eine neue Brille hatte und sich ständig selbst ansah.

Sie hatte für diesen Job extra die Stadt verlassen, für diese Chance, sie war aus ihrer geliebten Findorffer Zweizimmerwohnung nach Berlin-Weißensee gezogen. In Berlin hatte man sich daran gewöhnt, mit Leuten im Plüsch-Overall an der Ampel zu stehen, und wo jeder nach was besonderem aussah, aber nichts besonderes zu sagen hatte. Das Besondere war dermaßen zum Zwang geworden, dass es fast vollkommen bürgerlich war. Es war verheerend, wie die Zwanzigjährigen in zu großen Klamotten aus den Neunzigern rumliefen, als wären die Neunziger in irgendeiner Weise eine bessere Zeit gewesen. Sie waren alle gekommen, um von ihren Eltern weg zu sein und um sich selbst zu finden, und es gab nichts zu finden außer WG-Zimmer für 800 Euro und MDMA. Sie trugen die Neunziger, weil sie keine Zukunft hatten; die Modemacher wussten das auf perfide Weise oder waren selbst erst Mitte zwanzig.

Und Lola hatte geglaubt, sie hätte eine Zukunft in dieser Firma. Sie war nach Berlin gekommen, weil der Arbeitgeber für die Einstellung darauf bestanden hatte, nur damit jetzt ohnehin alle Meetings online stattfanden. Gestern hatte sie spätabends nach einem besonders zähen Meeting verärgert das Haus verlassen, um sich wenigstens noch Instant-Nudeln im Späty zu kaufen, und sie hatte sich im Vorbeigehen ausgerechnet bei Jürgen darüber ausgelassen. Jürgen war ein Pfandflaschensammler, den sie persönlich kannte, weil der meistbenutzte Altglascontainer Weißensees direkt unter ihrem Küchenfenster stand. „Ick war Barkeeper, sone Online-Sachen hats bei uns nisch jejeben“, hatte er nur erwidert.

Heute morgen hatte Lola auf Insta ein Reel gesehen, wo jemand auf einer Bühne erzählt, wie er seinen Job gekündigt hat, weil er eigentlich Zauberer sei, und dass sich jeder trauen soll, seinen eigenen Weg zu gehen und zu machen, was erwirklich will und zu sein, wer er wirklich ist. Das ganze war mit bewegender Musik unterlegt und das Publikum war gerührt und schien das zum ersten Mal zu hören und schien daran zu glauben, dass es eine Wirklichkeit gab.

Ich will wirklich meine Miete bezahlen, hatte Lola ärgerlich gedacht, den Laptop angemacht und mit verschwommenem Blick der Emailanzahl im Posteingang beim Wachsen zugesehen. 32 ungelesene seit gestern Abend. Lola war sehr erfolgreich in dieser Firma gewesen, sie war mit Anfang 30 jetzt schon im Middle Management mit lauter um die 50-Jährigen, und es würde sie wahrscheinlich nur noch 5 Jahre bis an die Spitze kosten. 5 Jahre, dachte Lola, nur noch 5 Jahre, dann hab ich’s geschafft. Dann habe ich 64 statt 32 Emails. Dann manage ich nicht mehr Marina, Claudia und Joschua, sondern Silke, Shruti, Michael, und wie sie alle heißen, den ganzen Zweig in München und die ganzen Holländer.

Und dann noch ca. 35 Jahre bis zur Rente.

Sie starrte auf die Fugen.

Vielleicht, dachte sie plötzlich, könnte sie ja kündigen, nur, um dann gezwungen zu sein, was neues anzufangen. Man muss ja nicht gleich Zauberin sein, dachte sie, während Marina zu reden aufhörte.

Man kann ja auch Kassiererin sein, dachte Lola, oder Eventmanagerin, in Wirklichkeit. In Wirklichkeit schien eine unangenehme Stille aufgekommen zu sein, weil Lola seit zwei Minuten nicht auf Marina reagiert hatte. „Ja“, sagte Lola, „danke dir, Marina.“

Alle Kacheln schwiegen.

Lola blinzelte.

„Danke dir echt von Herzen, Marina, für das ausführliche Statement, das hat mir jetzt wirklich geholfen, eure Situation zu verstehen“. Sie hörte, wie draußen jemand den Altglascontainer nach Pfandflaschen durchsuchte. Vermutlich Jürgen. „… und ich denke da stecken auch wirklich viele Opportunities drin, wenn wir uns jetzt mal nicht auf das Negative fokussieren.“ Lola sah über ihren Laptoprand hinweg aus dem Fenster, auf eine gräuliche Hausfassade. „Ist ja klar, dass wir hier auch alle nur menschliche Entscheidungen treffen“ – die Glasflaschen knirschten und klimperten gegeneinander. „… Ich muss ja auch jeden Monat C-Level meine Zahlen präsentieren, und C-Level reagiert ja auch nur auf den Stock Market beziehungsweise die Stakeholder.“ Jürgen ließ eine Flasche fallen, die lautstark auf dem Gehweg zersprang. „Es sind harte Zeiten für unsere Branche, und wir müssen jetzt eben besonders die Zähne zusammenbeißen.“

Jürgen seufzte enttäuscht.





Charlotte Döhrmann (*1991) arbeitet als Autorin, Moderatorin und Literaturvermittlerin. Sie ist Redakteurin des Literaturmagazins Pigeon Publishing. Von 2021-2024 Jurymitglied des Heidelberger Autor:innenpreises. Am liebsten schreibt sie Lyrik, gern aber auch Kurzprosa und Essays. Thematisch befasst sie sich hauptsächlich mit der Kritik des Bürgerlichen aus linker, queerfeministischer Sicht und der Entwicklung utopischer Perspektiven.

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