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  • Felix Kunz

Schtick & Uteros

Schtick hätte nicht gewusst, ob er je Teile seines Lebens anderswo verbracht hatte als auf jener Wiese, die er – da er nun einmal sich nicht erinnern konnte, je anderswo gewesen zu sein und auf der er demnach die meiste Zeit seines Lebens, wenn nicht ausnahmslos seine gesamte Lebenszeit, verbracht hatte – die er als so etwas wie seine Heimat ansah. Und bisweilen, im Selbstgespräch, bezeichnete er sie auch so: »Heimat, nämlich« sagte er dann. Ob er tatsächlich nie etwas anderes gesehen hatte, das wusste er nicht, und hätte niemanden dazu befragen können. Denn so wie er glaubte, nie etwas anderes gesehen zu haben als seine Wiese, so glaubte er auch, nie jemand anderen gesehen zu haben als sich selbst, zumal er sich selbst nie gesehen hatte. Er gestand sich trotz allem ein, das letztlich nicht wissen zu können. »Vielleicht ist es mein Gedächtnis, das mich trügt« – sagte er dann, zu sich selbst. »Denn wie könnte ich selbst das beurteilen, weil es doch gar nichts zu erinnern gibt, das den einen Moment vom anderen unterscheiden würde? Und angenommen, es unterscheide etwas den einen Moment vom anderen – vielleicht vergaß ich es.« Und da es ihm schien, in dieser Sache weiter kein Urteil fällen zu können, unternahm er auch nicht weiter den Versuch, ein Urteil in dieser Sache zu fällen, und vergaß sie. Und vergaß er sie einmal nicht, so war sie ihm gleich.

Schticks Wiese war von einheitlicher Farbe und nicht sehr üppig. An einer Seite war sie durch einen mehrere Meter hohen Maschendrahtzaun begrenzt. Setzte Schtick voraus, dass der Zaun seine Position nicht beliebig wechselte, orientierte er seine Tätigkeiten in Ausrichtung an den Zaun. Seine Tätigkeiten waren: stehen, sitzen und liegen. Anfangs befürchtete er, das Stehen, Sitzen und Liegen würde ihm langweilig werden, bis er jenen Zaun, der ihm bis dahin egal gewesen war, in seine Tätigkeiten einbezog. Von da an stand, saß und lag er entweder: zum Zaun gewandt, oder vom Zaun abgewandt, oder aber mit der entweder linken oder rechten Seite dem Zaun entweder zu- oder abgewandt, woraus sich, unter Einbezug der verschiedenen Betrachtungsweisen, bereits 18 verschiedene Möglichkeiten ergaben, sich zu verhalten. Betrachtete er nun zudem den Zaun als Norden oder Süden oder dergleichen (was ganz egal war) und unterteilte die bisher sechs verschiedenen Möglichkeiten, sich zum Zaun zu verhalten, in 32 mögliche Himmelsrichtungen, dieses mal ohne die Betrachtungsweise zu berücksichtigen, ergaben sich bereits 96 verschiedene Möglichkeiten, sich zu verhalten. Und weiterhin, unter Einbezug des Standes der Sonne, den er grob gliederte in: morgens, mittags, abends, waren ihm ganze 288 Möglichkeiten gegeben, seine Tage zu verbringen.

Als er das einmal erkannt hatte, war er sehr froh darüber, denn nun, so meinte er, würde er, unter freier Wahl aus 288 Möglichkeiten sich zu verhalten, seines Lebens nie überdrüssig werden.

Es gab jedoch einen Haken. Leider musste Schtick sich eingestehen, dass er sich gar nicht so sicher sein könne, ob nun er oder der Zaun jeweils die Position wechselte. Ob also, wie er bisher gedacht hatte, tatsächlich er sich irgendwie zum Zaun verhalte, oder umgekehrt der Zaun sich zu ihm. Es war da nichts, dessen er sich in einem Maß hätte sicher sein können, sein Verhältnis zum Zaun daran aufzuhängen. »Die Sonne« – meinte Schtick zunächst, bis er einsehen musste, dass es mehr als ungewiss war, ob die Sonne tatsächlich jeden Tag dort auf- und unterging, wo sie am vorigen Tag auf- und untergegangen war. Und wahrscheinlicher schien es ihm, dass Sonne und Zaun in einem engen Verhältnis zueinander existierten, als dass er Teil dieses Verhältnisses gewesen wäre. Er musste also sowohl die Himmelsrichtungen als auch die Tageszeit, die er gerade in kleinere Bestandteile hätte aufteilen wollen, um denkbar viele Möglichkeiten auszuschöpfen, – er musste beiden wieder die Bedeutung beimessen, die ihnen zukommt. Er sagte also: »Das ist der Zaun, das ist die Sonne«, und kein Wort mehr, denn beiden konnte er sich nicht gewiss sein. Es blieben ihm also nur 18 Möglichkeiten, sich zu verhalten, die bestanden in: Stehen, Sitzen und Liegen, und das jeweils: zum Zaun gewandt, vom Zaun abgewandt und, je nach Art der Betrachtung, mit der jeweils linken oder rechten Seite dem Zaun entweder zu- oder abgewandt. Nun musste er abermals einsehen, dass er zwar sein Verhältnis zum Zaun irgendwie benennen konnte, aber weil er ja nicht wusste, ob der Zaun überhaupt jeden Tag an derselben Stelle stand, so dachte er: »Wenn ich nun am einen Tag dem Zaun zugewandt sitze, so sitze ich vielleicht am nächsten Tag in dieselbe Richtung schauend vom Zaun abgewandt, wie am nächsten Tag ihm mit der linken Seite zugewandt und trotzdem wieder in dieselbe Richtung schauend, denn dem Zaun kann ich mir nicht gewiss sein.« Er musste also alle Möglichkeiten, sich zum Zaun zu verhalten, verwerfen. Letztendlich waren ihm also sowohl Zaun als auch Sonne wieder ganz gleich und ihm blieb nur dies: zu liegen, zu sitzen oder zu stehen – und darüber wenigstens konnte er sich sicher sein. Und konnte er das nicht, so beschloss er zumindest, darüber weiter kein Urteil zu fällen.

Uteros hielt sich zu jener Zeit und insbesondere an sonnigen Tagen auf der anderen Seite des Zaunes auf. Da Schtick der Zaun gleich war, war ihm auch gleich, was jenseits des Zauns lag, und somit war ihm Uteros gleich, wie ihm auch die Sonne gleich war, die Uteros nicht gleich war, der sich an sonnigen Tagen besonders gern jenseits des Zaunes aufhielt. Uteros hielt sich nie diesseits des Zaunes auf, weder aus seiner eigenen noch aus der Perspektive Schticks. Sagte Schtick sich etwa: »Ich bin diesseits des Zaunes, und jenseits des Zaunes, da ist Uteros«, was er zu jener Zeit nicht tat, da ihm das Jenseits des Zaunes egal war, so hätte Uteros das bestätigt und gesagt: »Ich bin jenseits des Zaunes, und diesseits des Zaunes, da ist Schtick«, was nicht vorkam, denn sie sprachen nicht miteinander – weder zu jener Zeit noch irgendwann, und wenn es doch einmal schien, als würden sie miteinander sprechen, sprach immer nur einer, für sich.

Uteros war keineswegs gleich, was diesseits des Zaunes lag, und so fühlte er sich hingezogen zu Schtick. Einmal fasste er den Beschluss, das Ende des Zaunes zu suchen, und verband damit in etwa die Absicht, wenn er es finden würde, hinüberzutreten. Er ging den Zaun in eine Richtung entlang und fand nach kurzer Zeit, dass dieser dort endete. Seine Absicht, die ursprünglich, in etwa, damit verbunden gewesen war, hatte er da bereits vergessen. Aber selbst, wenn er sich noch genau erinnert hätte: Er hätte vor dem Hinübertreten wohl gezögert, denn er musste einsehen, dass der Zaun an jener Stelle allein abbrach, er aber in keinem Fall sagen konnte, ob dies nun Anfang oder Ende des Zaunes war. Also ging er in die entgegengesetzte Richtung den Zaun entlang, um auch dort zu finden, dass der Zaun abbrach, ohne wiederum behaupten zu können, ob er dort begann oder endete. Die folgenden Tage erinnerte er sich bisweilen an seine Absicht und unternahm denselben Versuch, doch auch wenn er, als er jeweils eine der beiden Stellen erreichte, an denen der Zaun abbrach – wenn er sich dann noch an seine Absicht erinnerte, dann konnte er nicht den Schritt hinüber tun, aus demselben Grund. Denn er sagte sich: »Wohl könnte ich nach dem Ende des Zaunes hinübertreten, nicht und niemals aber vor dem Anfang.« Und da es ihm unmöglich war, zwischen beiden zu unterscheiden, blieb Uteros stets jenseits und Schtick, dem ein solches Verhalten gänzlich fremd gewesen wäre, stets diesseits des Zaunes. Schtick lag währenddessen.

Schtick saß, als Uteros einsah, dass er weder mit Schtick verkehren, noch ein Wort mit ihm werde wechseln können. Uteros dachte stattdessen allein an Schtick. Aber da Uteros, im Gegensatz zu Schtick, den Dingen Bedeutung beimaß: Er dachte etwa: »Das ist die Sonne, und das ist der Zaun«, aber auch: »und das bin ich, und ich bin zur Sonne, und ich bin zum Zaun, und so sind Sonne und Zaun zu mir, wie sie auch zueinander sind und wie ich bin zu mir.« Demnach dachte er auch, wenn er an Schtick dachte, nicht, wie Schtick über ihn gedacht hätte, hätte er Uteros je zur Kenntnis genommen, nämlich: »Das ist Schtick«, sondern er dachte: »Das ist Schtick, und Schtick ist jenes Wesen, das ich liebe.« Schtick stand daraufhin.


Sie berührten sich einmal. »Wer die Nähe für die Liebe braucht«, sagte Uteros da, nachdem sie einander berührt und daraufhin lang geschwiegen hatten – »wer die Nähe für die Liebe braucht, der liebt nicht, oder aber: Der ist ein schwacher Mensch.« Und Schtick sagte:


Ich liebe stets,

& wenn nicht dich,

So liebe ich allein.

& lieb' ich mich,

Wie sollt' ich je

Fern meiner Nähe sein«


– und Uteros:


»Ich war‘s nie nicht«


– und sie schwiegen erneut, bis sie sich am nächsten Tag zum ersten Mal begrüßten.

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