Der Sinkvogel/eg
»Du hast mir meine Flügel abgeschnitten, daher werde ich dir deine Finger zusammenbinden«, flüstert er uns immer in die Ohren. Wacht auf und schließet zugleich eure Augen. Denn die Toten werden für uns Wache halten. Kommt, geht und schlaft! Der Sinkvogel segnet eure Trauben und zugleich befiehlt er deren endgültiges Zermatschen. Denn giftiger Wein sollen eure Trauben einst werden, der wieder auf die neugeborenen Trauben zu schütten ist. Wer dem Sinkvogel kein Gehorsam leistet, der fliegt zwar sehr hoch, erreicht aber in der unendlichen Höhe die eigene Hölle. Daher ist es davon abzuraten liebste Freunde, nicht zu sinken. Denn wie er auch immer sagt: »In eurem Sturz werdet ihr eure Höhe finden und wenn ihr am Ende eurer Reise auf dem Boden tot liegt, werdet ihr die glücklichsten auf der Erde sein!«. Also glaubet und wartet auf die Erlösung, die euch der Sinkvogel prophezeit. Blind mag ich sein, doch meine Augen lügen mich nicht an. Taub mag ich sein, doch meine Ohren sprechen. Tot mag ich sein, doch mein Herz denkt noch mit. Weinen mag ich, doch meine Tränen fließen nicht herab. Und vergesset nicht: Wer sich selbst bei seinem eigenen Sturz zugeschaut hat, der wird von dem Sinkvogel am meisten gelobt. Und sein Lob ist des Menschen aller höchstes Ziel. Also...marschiert ihm hinterher, mit herab.
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Ikarus/ck
Wenn ich ans Fliegen denke,
dann zuletzt daran, wie du in die Höhe kamst,
aus dem Nest in die Tiefe.
Hast du es in den Horizont geschafft, verrate mir, wie hast du ihn gefunden?
Dein Blick nach oben gerichtet, auf einen rufenden Berg,
dessen Gipfel du niemals kennen wirst.
Was hat dir befohlen in die Luft und nicht in die vertrauten Dornen zu gehen?
Jetzt blitzt du am eisblauen Himmel wie eine einzige Schneeflocke, durch die die Sonne ihre
Strahlen wie Pfeile schmeißt.
Sag mir, wieso kann ich dich nicht tanzend im Wind bestaunen,
sondern halte beständig Ausschau nach dem Grund.
Für dich.
Der Schatten, den deine Schwingen dort werfen müssten,
versinkt im unendlich tiefen Abgrund, dessen Ende er nicht finden wird.
Jede Melodie, die ich für dich singen würde, jedes verhallende Lachen,
zieht er schwerfällig mit in die Schlucht.
Keine Antwort.
Die Augen in ihr vergraben, sehe ich, wie du fällst.
Die Flügel, die ich dir gab, hat die kalte Sonne versengt.
In tropfenden Tränen fließt du am Himmel hinunter,
sie erstarren zu Säulen,
aber keine Lüge zur Scholle, auf der du Landen kannst.
Dein Gewand aus tragenden Federn offenbart,
wie bedürftig sie deine Blöße vor der Kälte bedecken.
Sie legen frei, was du wirklich bist:
Ein nackter Vogel im ewigen Sinkflug.
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Wiederkehr/kg
Hoch runter hoch
Alles was runterfällt muss auch hochkommen wir
aber nun zum Gespräch zurück zum Boden
kann ich nur eins sagen und zwar zwei
hoch runter hoch
vom Vögelchen fällt das Ei(n) letztes Mal
um seinetwillen doch
zum Himmel kann ich eins sagen und zwar zwei
hoch runter hoch
zurück zum Loch
wo alles kommt und geht nur der Mensch
den letzten Berg hoch runter hoch
so findet er tatsächlich einen freien Fall
durch den Himmel zum Mond kann ich nur eins sagen
und zwar nichts was
fliegt mir durch den Kopf die Idee Quatsch die Erinnerung
eines Todes vor dem Leben stürzte ich
ins Wasser muss man herabsteigen wir den Berg hoch
so findet sich der Mensch tatsächlich
in der prekären Situation kann man nur dies sagen
und zwar alles was hochgeht
bleibt stehen wir am Ende des Weges Quatsch
der Erde fällt das Eine noch das Andere weder
ich noch meine Feder
halten das aus dem dunklen Nebel
erhebt man sich nur runter in den Absturz Quatsch in den
Abgrund dafür ist bekannterweise unbekannt
So lässt meine Reise auf diese Weise erzählen wir
doch bitte alles was runterfällt
muss auch hochkommen mir die Ideen
Quatsch die Erinnerungen zurück zum Boden
kann ich nur eins sagen und zwar zwei
hoch runter hoch
dem Vögelchen fällt das ein.
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Stadt steht/ph
Ein greller Widerhall ist von den Menschen geblieben, aber es kehrt Ruhe in die tosenden Straßen. Die Straße entfacht ihr eigentümliches, weißes Licht. Das Schauspiel kann beginnen.
Das Fenster taumelnd, noch geblendet vom Tag rücke ich ab. Der Raum liegt nun im Dunkeln, nur ein Schatten zeichnet sich noch an den Wänden ab. Langsam zieht er sich zurück. Knieend steigt er auf das Bett, legt sich zur Seite, greift nach seinen Armen und Beinen und zieht sich mit einem gestreckten Atemzug ausatmend zusammen. Jeder Herzschlag wird gegenwärtig. Behutsam lausche ich, ob er auch nicht verstummt. Es pocht in den Rippen, hallt in meinen Ohren und schleicht sich in ein Bild von einer blinkenden Ampel. Das metallische Klicken beginnt mich zu nerven, es klingt nach einem ungeladenen Gast, der mit strahlendem Lächeln und Kuchen vor der Tür steht, damit man ihn nicht mehr abweisen kann. Aber bevor ich die Ampel mit zugekniffenen Augen in ihrer Anmaßung greifen kann ist das Warten überstanden. Es setzt sich alles wieder in Bewegung. Neben mir ein großer schwarzer Hund mit einer im Vergleich erstaunlich kleinen Dame. Neben ihr wiederum eine ganze Kette aus Leuten, die ich kaum erkennen kann. Ich habe wohl meine Brille vergessen. Wie selbstverständlich beginnen alle, als Menschenkette, die Straße zu überqueren.
Die Kette ist aufgereiht, in gleichmäßigen Abständen sind die kleinen Glieder aufgefädelt und können die kindliche Freude, auf die andere Seite zu gelangen, kaum verbergen. Im Gleichschritt trippelt man begeistert los. Fiebrige Begeisterung macht sich breit. Der Wind schlägt bereits mit Zeitungstiteln um sich. Haben sie so etwas schon gesehen, so etwas gehört? Alle waren dabei, Sie doch sicher auch, Sie können es gar nicht verpasst haben, reicht man Gemurmel über die Schatten hinweg, von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund. Jeden Wurm auf diesem gottverdammten Planeten muss die Euphorie ergriffen haben. Denn es stehen doch alle hier. Alle gemeinsam mit einem Gedanken, mit demselben Gesichtsausdruck, demselben Gang und ich bin mir sicher, dass alle nackt waren auf dieser Kreuzung. Es kann gar nichts anderes mehr gegeben haben auf dieser Welt als Alle. Als Wir. Mein Herz beginnt immer schneller zu schlagen, es trommelt den Marsch: Voran! Und voran tobt die Menge. Ein Gemetzel beschwört man herauf. Jeder, der sich nicht mehr halten kann, und es ist niemand zu sehen, der es noch kann, drängt nach vorne. Es geht ein schmerzverzerrtes Ziehen durch die Menge. Ein dunkler Wall zieht auf, aber nicht alle wirbeln den Staub auf, sondern die Straße. Die Straße wallt sich vor uns auf und droht, über unseren Köpfen einzubrechen. Jeder Stein kräuselt sich, türmt sich schwankend auf. Die Schlachtstraße drückt ihre Brust kämpferisch heraus und aus dem Dunst tritt eine weitere Kette. Eine weitere Kette von Menschen, alle nackt, alle mit wahnhaft verzogenen Gesichtern. Sind sie denn wahnsinnig? Ja, sie sind schon von Blut verschmiert und stürzen mit ihren Klauen voran. Die lichtumrissenen Gestalten ziehen sich zu uns hin, ungreifbar gestreckt und immer näher zum Boden gleißen sie hinab. Die Klauen schlagen endlich aus, sie begehren auf. Aber sie zerbrechen ihn ja. Sie zerbrechen den Spiegel. Den fallenden Spiegel und es löst sich ein grässlicher Schrei. Wie durch das unsprachliche Wort auf sich zurückgeworfen zieht sich ein Sprung durch mein Gesicht. Man müsste schon raten, um die Einzelteile von Mund, Auge, Nase und Ohren wieder zusammenzusetzen. Doch zu spät. Jetzt wird keiner mehr die Scherben aufsammeln. Niemand wird wagen zu fragen, ob hier je etwas stand, aber noch ist die Erde nicht platt. Das kalte Glas zuckt blitzend wieder durch meine Gedanken und drückt mich durch den erkalteten, einst brodelnden Teer in die Erde hinein.
Triefende Anspannung drückt mir die Sinne in den Leib hinein. Hinter einem Vorhang rücken Knochen knirschend zusammen, um der Kälte zu widerstehen. Aber gegen die Gewalt genügt ein Augenaufschlag zurück in die Welt nicht. Der Herzklumpen zwängt sich durch meine Rippen, entwischt und fällt mit schwerem Klang in eine Kluft, die nicht aufzuschütten ist. Das pochende Organ senkt sich genüsslich tönend in das Dunkel hinein. Dort wird es keinen Frieden finden, aber auch nicht die Suche danach. Es drängt gar nicht an das Ende aller Dinge und es würde auch nicht fallen, wenn es sich nicht in einer wirbelnden Drehung tiefer schraubte. Sinkend schwebt es hinauf oder hinab, aber da ist kein Punkt, um Raum zu definieren. Auf dass alles verrotten möge ohne einen schlagenden Klang, würde es abgehend noch sagen. Im Taumel jedoch schwillt das unbarmherzige Organ an und sprengt schließlich den Wahn.
Haben Sie denn nichts gehört? Klammheimlich ist das Licht schon wieder zurückgekehrt. Es schimmern Schweißperlen auf einem bloßgelegten Körper und reflexartig greifen Händen nach meinem bebenden Brustkorb. Aber dort ist nichts geblieben, mit der umschließenden Decke habe ich auch die Traumbilder schon lange wieder von mir gestoßen.
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Sinkflug/fl
Weil es einfach ist, unterscheide ich alle Dinge, die mir begegnen, in folgende Kategorien: Dinge, die sich von allein ergeben, und Dinge, die sich nicht von allein ergeben. Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, ob die Kategorien sich ausschließen. Man könnte meinen, dass die meisten Dinge sich von allein ergeben. Man wird geboren. Man wird konfirmiert. Man wird von der Schule verabschiedet. Man absolviert sein Abitur? Ich jedenfalls wurde von der Schule verabschiedet. Man wird achtzehn. Man wird entjungfert. Man verliebt sich, definitiv. Man wird in die Gesellschaft aufgenommen – nicht, dass ich mich jemals integriert hätte. Man wird alt. Man wird berentet. Aber: man stirbt, als hätte man irgendetwas damit zu tun.
Es gibt eine Frage, die mich hier beschäftigt. Nämlich: Ergibt es sich von allein oder ergibt es sich nicht von allein, ob sich etwas von allein oder nicht von allein ergibt? Das ist eine Frage, die, an einem gewissen Punkt hätte ich die Antwort darauf gekannt, für mich einen großen Unterschied gemacht hätte. Es ist irgendwo auch die Frage nach so etwas wie Schuld. Also, hätte ich etwas, das sich von allein ergeben hat, so, wie soll ich sagen, so behandeln, so verändern können, als hätte es sich nicht von allein ergeben, als hätte ich etwas damit zu tun? Ich hatte mich verliebt, definitiv. Ich war nicht mehr verliebt, irgendwann, würde ich sagen. Habe ich es beendet? Ich würde sagen, ich hatte nichts damit zu tun.
Ich würde auch nicht sagen, ich hätte es bemerkt. Nicht in dem Sinne, dass ich es tatsächlich nicht bemerkt hätte. So etwas wird, wie soll ich sagen, an einen herangetragen, es ist einfach da, es wird einem bewusst, am ehesten, man kann nichts dafür. Ich wusste es früher als sie. Sie hatte es später als ich bemerkt, aber: Sie hatte es bemerkt, aktiv. Deshalb zweifle ich. Sie hat es ausgesprochen. Ich habe geschwiegen. Das meine ich.
Einmal gingen wir spazieren, Sonnenuntergang, Feldrand, braun und orange und hinten das Licht. Sie mir ein Stück voraus, sie war schneller und lief weiter, hin und her als würde sie den Weizenähren ihre Leichtigkeit zu tanzen. Ich dahinter. Goldene Reflexe in ihrem Haar, ein wenig zerzaust vom Wind, und in einer Bewegung neigt sie mir den Kopf zu, kindliches Lächeln, tiefe Augen. Das war der Punkt. Einen Schritt, eine Bewegung, ihre Hand in die meine, mehr hätte es nicht gebraucht. Es ist nicht so, als hätte ich gekonnt.
Manchmal denke ich daran zurück. Ich liege und schließe die Augen und frage mich, ob ich gekonnt hätte. Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Unmöglich zu sagen. Es passiert seither nicht viel, und was passiert, widerfährt mir. Ich habe mich verliebt, definitiv. Alles andere geschah im Sinkflug.
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sinkflug/jk
du stehst weit oben
immer weiter näherst du dich den höhen-
flügen in den abgrund
du stehst und fällst zugleich
ist das das leben
fliegen und sinken als der nie endenwollende kreislauf
ohne das eine gibt es das andere nicht
ohne das gefühl zu scheitern lebt man nicht
lebenswertes leben
inhalt von antithesen
steh immer einmal mehr auf als du fällst
phrasendrescherei
was soll die sch***
bist du dazu gemacht
lebend zu fliegen und zu sinken
nicht jede:r hat den flugschein des lebens absolviert
hochmut kommt vor dem fall
noch so etwas
aber wenn du fällst
dann genieße es wenigstens -
jeden meter
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Siehst du schon den Boden? /jb
Der Wind hat die Wolken zerrissen
in denen wir noch eben unbehelligt schweben
unser Blick im freien Fall
drücken wir uns haltsuchend in die Lehnen
Bodenlos in der Luft
dehnen wir behände die Momente
schmieden große Zukunftspläne
für nach der Landung, wenn alles überstanden ist
Doch Flugzeuge fliegen den Sinkflug
die Nase nach unten gekippt; geradewegs in den Boden hinein
zurücklehnen hilft da
gar nichts